In der klassischen Ernährungsberatung wird, wie im Training häufig auch, das Gehirn außen vorgelassen. Zu unrecht. Denn letztendlich ist es unser Gehirn, das alles entscheidet. Unabhängig, ob es um Hunger, Durst, Magen-Darm-Beschwerden, Gewichtsprobleme, Bluthochdruck und vieles mehr geht. Dies sind nur Symptome bzw. ein Ergebnis, das auch als Output bezeichnet werden kann.
Genau auf diesen Symptomen wird häufig der Fokus gelegt bzw. der Behandlungsansatz. Was kann ich essen, damit ich keine Bauschmerzen mehr habe? In der neurozentrierten Ernährungsberatung liegt allerdings der Schwerpunkt auf der eigentlichen Ursache. Warum kommt es zu Bauchschmerzen? Und diese Entscheidung trifft unser Kopf bzw. Nervensystem. Alles in unserem Umfeld gelangt als Information in das Gehirn. Es ist ein Input für uns. Dazu zählt z. B. Stress, Essen, Schlaf, Bewegung, Trinken, Licht, Atmung. Einfach alles. Unser Gehirn nimmt diese Informationen auf und verarbeitet sie. Wichtige neuronale Informationsquellen im Ernährungskontext sind u.a. Vagusnerv und Inselrinde als Basis für eine gut funktionierende Interozeption. Hier liegt ein Hauptfokus der neurozentrierten Ernährungsberatung.
Je nachdem wie gut die Qualität der eingehenden Informationen ist, entscheidet unser Kopf darüber, was für ein Output bzw. Ergebnis (häufig ein Symptom) produziert wird. Dies können z. B. Magen-Darm-Beschwerden sein oder Gewichtsschwankungen. Schlechte oder unzureichende Informationen führen zu Unsicherheit für unseren Kopf und lösen Stress in unserem Nervensystem aus. Für unser Gehirn steht Sicherheit allerdings an erster Stelle. Wann immer sich unser Kopf unsicher fühlt, so ergreift er Schutzmaßnahmen. Gebe ich dem Gehirn nun bessere Informationen, die das gefühlte Sicherheitsempfinden steigern, so wird auch der Output besser bzw. sich das Symptom reduzieren. Information kann z. B. sensorische Stimulation der Haut sein, Integration von Geruch und Geschmack, Vagusnervaktivierung zur Stressreduktion oder anderes je nachdem, was das Nervensystem individuell als positiv bewertet. Das macht neurozentrierte Ernährungsberatung.
Interview:
Neurozentrierte Ernährungsberatung ist ein Begriff, der einem nicht unbedingt geläufig ist. Du möchtest dabei betonen, dass der Kopf / das Gehirn letztendlich die Entscheidungen trifft, auch was den Bereich Ernährung angeht. Kann man in diesem Zusammenhang sagen, dass es gar nicht so wichtig ist, was man isst, sondern vielmehr, was das Gehirn „dazu sagt“?
Der Begriff „neurozentrierte Ernährungsberatung“ ist meine eigene Wortkreation. In Deutschland kennt man die Herangehensweise, das Nervensystem in den Mittelpunkt zu stellen eher unter dem Namen Neuroathletik, die sich jedoch vorwiegend auf Bewegung konzentriert. Das Nervensystem sollte aber auch bei typischerweise ernährungsassoziierten Krankheiten nicht außen vorgelassen werden. Das bedeutet im Umkehrschluss jedoch keinen Freifahrtschein für eine nährstoffarme und hoch verarbeitete Kost, sondern ist vielmehr als Ergänzung zu sehen. Klar ist, dass es nicht die eine Ernährungsweise gibt, die für jeden funktioniert. Das hängt aber von sehr vielen Faktoren ab: Mikrobiom, Lifestyle, genetischer Disposition, aber eben auch der Neuromatrix des Gehirns.
Ein Prinzip des Neuro-Trainings ist das Testen und Re-Testen. Dies lässt sich auch auf den Ernährungsbereich übertragen. So kann ich durchaus testen, wie mein System auf Lebensmittel reagiert, z. B. durch Messung von Körpertemperatur, Puls und Blutzucker vor und nach einer Mahlzeit. Dies kann Hinweise auf individuelle Stoffwechselreaktionen und den Körper „stressende“ Lebensmittel geben. Aber auch eine subjektive Einschätzung ist ein probates Mittel, sofern keine interozeptive Dysfunktion vorliegt und ich auch hier gewissen Rahmenbedingungen einhalte. Hierdurch ergeben sich dann häufig sehr individuelle Ergebnisse und auch vermeintlich gesunde Lebensmittel können negative Auswirkungen haben. Auf der anderen Seite sind Gehirn und Nervensystem für eine einwandfreie Funktionsweise natürlich auch auf ausreichend Makro- und Mikronährstoffe angewiesen.
Kann das Gehirn beeinflusst werden durch unser Essverhalten? Kann ich z.B. durch langsames Kauen im Kopf etwas anders auslösen, als wenn ich sehr schnell esse?
Unser Gehirn wird grundsätzlich durch alles beeinflusst. Dazu zählt natürlich auch unser Essverhalten. Essen löst bildlich gesprochen ein Feuerwerk in unserem Kopf aus. Es gibt keinen Hirnnerv, der an der Nahrungsaufnahme nicht beteiligt ist. Das ist eine Vielzahl an sensorischen Informationen, die beim Essen an unser Gehirn gehen und diese Aktivierung ist erst einmal positiv. Unsere Nervenzellen benötigen Aktivierung, um am Leben zu bleiben, denn unser Gehirn funktioniert nach dem Prinzip „use it or loose it“. Essen ist leider für viele Menschen der einzige Stimulus, den sie regelmäßig erhalten, ist unsere heutige westlichen Lebensweise von Bewegungsmangel geprägt. Langsames Kauen hat in dem Sinn einen Einfluss auf unser Gehirn, dass es hierdurch per se zu einer langsameren Nahrungsaufnahme kommt und unser Gehirn somit mehr Zeit hat, die interozeptiven Signale wahrzunehmen und zu verarbeiten. Die Nahrungsaufnahme wird von unserem Hypothalamus überwacht und übergeordnet gesteuert. Diese Signalwege und Steuerungsprozesse sind jedoch äußert vielfältig und komplex und hier stehen wir erst am Anfang der Forschung.
Ganz praktisch gefragt, wie kann eine neurozentrierte Ernährungsberatung z.B. bei Blähungen oder Durchfall aussehen? Gibt es dabei ein einheitliches Vorgehen oder muss das immer individuell abgestimmt werden?
Am Anfang der Beratung steht immer eine ausführliche Anamnese und Tests. Jeder Klient hat eine individuelle Geschichte hinter sich und Auslöser für Magen-Darm Beschwerden können vielfältig sein. Unser Verdauungssystem ist sehr stressanfällig und eine gute Verdauung kann nur stattfinden, wenn wir uns in einem parasympathischen Zustand befinden. Der erste Ansatz für die Beratung ist daher, eine Stressreduktion zu erlangen. Hierbei spielt der Vagusnerv als wichtiger Teil des Parasympathikus eine Schlüsselrolle. Der Vagus lässt sich gezielt mit Übungen, wie z. B. Summen, Atemübungen, Ohrstimulation oder Zungenübungen aktivieren. Um nun herauszufinden, welche Übung für den Patienten die richtige ist, kommt wieder das Testprinzip ins Spiel. Hier ist keine Pauschalaussage möglich und die Vorgehensweise ist immer individuell. Ein weiteres interessantes Gehirnareal zur Verbesserung von Verdauungsbeschwerden ist die Inselrinde, in der unsere Interozeption bzw. Innenwahrnehmung zu Hause ist. Bei intestinalen Beschwerden liegt hier häufig eine Dysfunktion vor. Die Inselrinde lässt sich z. B. über Geruch oder das gezielte Training der Innenwahrnehmung aktivieren. Häufig kombiniere ich auch Übungen für Inselrinde und Vagusnerv, da beide Bereiche eng miteinander verknüpft sind.
Kannst Du uns abschließend vielleicht noch ein weiteres praktisches Beispiel zeigen, bei dem neurozentrierte Ernährungsberatung helfen kann, z.B. bei Bluthochdruck?
Der Blutdruck zählt zu den autonomen Funktionen unseres Körpers. Autonome Funktionen werden unter anderem in unserem Hirnstamm geregelt, hier in der Formatio reticularis. Diese steuert den Blutdruck der Körperhälften ipsilateral, indem es die glatte Muskulatur um die Gefäße reguliert. Ob sie richtig arbeitet, lässt sich durch verschiedene Tests, wie Muskelfunktionstest der Extensoren in Finger und Zehen überprüfen. Zusätzlich sollte der Blutdruck rechts und links separat gemessen werden. Dies ist jedoch nur aussagekräftig, wenn bisher noch keine Blutdruckmedikamente gegeben werden. Je nach Testergebnis gibt es Übungsmöglichkeiten, die die Formatio reticularis gezielt ansteuern. Das kann z. B. komplexe Gelenksmobilisation sein, wobei die neuronale Verschaltung hier kontralateral verläuft oder auch Atemübungen mit dem Fokus auf die Ausatmung. Eine funktionsfähige Formatio reticularis ist eine Voraussetzung für adäquate Blutdruckregulation, die bei Bluthochdruck überprüft und integriert werden darf. Weitere Faktoren, wie Übergewicht, gilt es natürlich auch zu berücksichtigen und anzugehen, sofern diese zutreffen.
Einen Vortrag zum Thema „Neurozentrierte Ernährungsberatung“ wird Lisa Könings am 18.09.2022 auf dem NEURO INNOVATION DAY 2022 in Frankfurt halten.
Der 1. NEURO INNOVATION DAY bedeutet einen Tag voller abwechslungsreicher Praxisworkshops und Vorträge sowie guter Gespräche zwischen Teilnehmern, Referenten und den Veranstaltern. Der NEURO INNOVATION DAY 2022 zeigt dir die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten neurozentrierter Übungen – über den Leistungssport hinaus. Er greift das Thema sportart- und therapieübergreifend auf, wird dich motivieren und dir Tests und Übungen zur direkten Einbindung in dein persönliches Setting zeigen.
Für diese besondere Neuroathletik Ausbildung konnte das ARTZT Institut zusammen mit der Deutschen Akademie für Neuro-Performance viele erfahrene Referenten gewinnen, die sich seit Jahren aktiv mit dem Thema neurozentiertes Training beschäftigen. Darüber hinaus freuen wir uns, diesen Tag beim Landesssportbund Hessen, einem Treffpunkt des Sports, durchführen zu können.
Weitere Infos sowie Anmeldemöglichkeiten dazu finden Sie HIER
Autoren
ist Diplom Oecotrophologin und ausgebildete Fitness- und Gesundheitstrainerin. Sie hat eine eigene Praxis in Bornheim/NRW und ist Mitinhaberin der Deutschen Akademie für Neuroperformance, einem Ausbildungsinstitut für neurozentriertes Training. Ihre Expertise der neurozentrierten Ernährungsberatung teilt sie in Einzelberatungen, online Kursen und Fortbildungen. www.eb-koenings.de