„Wissenschaftler streiten über Stellenwert der Akupunktur“. Dies war die Überschrift einer Meldung im Ärzteblatt, die der Frage nachging, ob Ärzte Akupunktur als Schmerztherapie verordnen sollten (12. März 2018). Auch wenn die Studienlage aussagekräftig ist, wird über diese Frage ständig gestritten, gleichzeitig gibt es unterschiedliche Regelungen, die sich je nach Landesgrenze ändern. In den USA wird Akupunktur bei Rückenschmerzen empfohlen, in Großbritannien hingegen sei sie nicht mehr in den Richtlinien des National Institute for Health and Care Excellence (NICE) für Kreuzschmerzen enthalten, obwohl sie in der NICE-Richtlinie für Kopfschmerzen enthalten sei. Das Weißbuch Konservative Orthopädie und Unfallchirurgie widmet der Akupunktur ein mehrseitiges Kapitel. In diesem Zusammenhang wollten wir von dem renommierten Experten und Pionier auf diesem Gebiet, Herrn Prof. Dr. med. Albrecht Molsberger (www.boewing-molsberger.de) erfahren, wie die Akupunktur in der modernen Sportmedizin integriert ist und welche Potenziale sich für die Zukunft ergeben.
Herr Professor Molsberger, welche Bedeutung und welchen Stellenwert hat die Akupunktur in der Sportmedizin? Und wie sieht es in diesem Zusammenhang mit der Evidenz aus?
Die Akupunktur hat mittlerweile auch in der Sportmedizin einen wichtigen und immer größer werdenden Stellenwert. Sie ist dabei besser belegt als andere adjuvante Therapieverfahren und auch besser als viele der sogenannten schulmedizinischen Verfahren. So existieren derzeit ca. 12.000 Publikationen in pubmed zur Akupunktur – 4.000 Trials, 8.000 Reviews. Dort wird die Wirksamkeit bei Osteoarthrose und muskuloskeletalen Schmerzen eindeutig belegt, und zwar eine Wirksamkeit, die über ein Jahr anhält und sicher über den Placebo-Effekt hinausgeht. So zeigten z. B. die GERAC Studien, die zusammen mit der Forschungsgruppe Akupunktur (www.akupunktur.info) entwickelt und durchgeführt wurden, dass Akupunktur bei chronischem Kreuz- und Knieschmerz etwa doppelt so gut wirkt wie eine „best of care“ Standardtherapie. Prof. Dr. med. Jürgen Windeler vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) bezeichnete neulich die GERAC Studien als „Glanzstück der durch das deutsche Gesundheitssystem finanzierten klinischen Forschung“. Letztendlich führten diese Studien zur Aufnahme der Akupunktur als Kassenleistung für die Indikationen chronischer Kreuzschmerz und chronischer Knieschmerz. Außerdem haben die GERAC Studien aufgrund ihrer Qualität und Größe (4.000 Patienten, 700 Ärzte, über 40.000 Akupunkturbehandlungen) die heutigen Metanalysen und Cochrane Reviews maßgeblich beeinflusst: So z. B. die aktuell größte und genaueste Analyse von Vickers et al (2017): „Acupuncture is effective for the treatment of chronic musculoskeletal, headache, and osteoarthritis pain. Treatment effects of acupuncture persist over time and cannot be explained solely in terms of placebo effects. Referral for a course of acupuncture treatment is a reasonable option for a patient with chronic pain.” Diese Aussage bezieht sich auf eine individuelle Datenanalyse von 20.827 Patienten aus 39 RCTs. Nach dieser Studienlage müsste die Akupunktur eingestuft werden als Klasse I: gilt nach aktueller Studienlage als gesicherte Empfehlung, immer akzeptabel, sicher und wirksam und Klasse IIa: gilt nach aktueller Studienlage als akzeptabel und sinnvoll (sehr gut bewiesener Vorteil).
Dass sich dies in der „offiziellen medizinpolitischen Rezeption und den Leitlinien“ noch nicht gleichwertig widerspiegelt, ist begründet durch den Leitlinienprozess an sich. Hier wird zwar die Evidenzlage eines Verfahrens als Grundlage herangezogen, es entscheidet dann aber ein sogenannter Expertenrat über die anschließende Bewertung innerhalb der Leitlinien. Hier gibt es noch immer eine Dominanz der chirurgischen Sichtweise, konservative Therapieverfahren werden nicht vergleichbar selbstbewusst vertreten und bekanntermaßen schreibt die Pharmaindustrie an den Leitlinien mit. Für die Pharmaindustrie aber ist die Akupunktur ein Konkurrenzverfahren. An ihr verdient nicht sie selbst, sondern der Arzt.
Kommen wir zu den Indikationen – wo, wann und wie?
Hier sind zu nennen im Prinzip alle muskuloskeletalen Erkrankungen, die keine Indikation zur OP darstellen. Das sind über 70 % aller sportbezogenen Erkrankungen. Overuse-Probleme der Gelenke, Bänder und Sehnen – wie z. B. LWS, HWS Schulter, Tennisarm, Achillessehne, Jumper´s Knee, Golferarm. Eigentlich kann man sagen: „Cortison ist „quick & dirty“ und die Akupunktur „clean & efficient, wenn auch leider slow“. Die Ausnahme stellt hierbei die sofortanalgetische Akupunktur zur schnellen Mobilisation von Gelenken bei akuten Problemen dar. Als nachhaltige und absolut dopingfreie Methode die Therapie in der Regel zweimal pro Woche statt, bei insgesamt 10 – 15 Seitzungen. Dies ist im Übrigen gut kombinierbar mit Physiotherapie und anderen Reha-Maßnahmen. Dazu gibt es natürlich auch noch Sonderformen und Stimulationsverfahren der Akupunktur wie Moxibustion, Elektroakupunktur, Ohr- Schädelakupunktur, Triggerakupunktur oder auch das Dryneedling. Zu einer guten Akupunktur gehört eine gute chinesische Diagnostik. Diese ist pragmatisch, präzise und schnell und führt zur optimalen Punktauswahl und Stimulationstechniken. In der Forschungsgruppe Akupunktur vermitteln wir genau dieses Wissen. Wir haben dort über 3.000 Orthopäden ausgebildet, inzwischen oft in der zweiten Generation. Der Vater war bei uns und übergibt jetzt die Praxis seinem Sohn. Ich höre immer wieder von Orthopäden „die Ausbildungsqualität der Forschungsgruppe gibt es nur bei der Forschungsgruppe!”
Welche Perspektiven sehen Sie für die weitere Anwendung in der Sportmedizin?
Inzwischen gehört die Akupunktur zu den am häufigsten angewandten konservativen Therapieverfahren in der Orthopädie – gut 80 % der Kollegen setzen sie routinemäßig ein. Kaum ein junger Orthopäde kommt heute ohne Akupunktur, die eine anerkannte Zusatzbezeichnung ist und deren Ausbildung Teil der ärztlichen Weiterbildungsordnung ist, aus. Als rein ärztliche Leistung kann dies auch ein wichtiges finanzielles Standbein für den Arzt sein. Orthopäden, die bei der Forschungsgruppe gelernt haben, machen im Schnitt 50 Akupunkturen pro Woche – das rechnet sich. Chronischer Knieschmerz und chronischer Kreuzschmerz werden von den Kassen in unterschiedlicher Form übernommen, alles andere sind private Leistungen. Interessant ist, dass es eine Diskrepanz in Bezug auf die Häufigkeit der Anwendung und die Sichtbarkeit dieser Themen auf Kongressen etc. gibt. Hier muss der Akupunktur wie auch anderen konservativen Therapieverfahren mehr Raum zur Verfügung gestellt werden. Entsprechend muss auch die Forschung in diesem Bereich gefördert und vertreten werden, gerade auch dann, wenn keine großen medizintechnischen oder Pharmafirmen hier finanzielle Interessen haben.
Weitere Literatur zur Evidenz
Acupuncture for Chronic Pain: Update of an Individual Patient Data Meta-Analysis. Vickers AJ, Vertosick EA, Lewith G, MacPherson H, Foster NE, Sherman KJ, Irnich D, Witt CM, Linde K; Acupuncture Trialists’ Collaboration. J Pain. 2017 Dec 2. pii: S1526-5900(17)30780-0. doi: 10.1016/j.jpain.2017.11.005
The persistence of the effects of acupuncture after a course of treatment: a meta-analysis of patients with chronic pain. MacPherson H, Vertosick EA, Foster NE, Lewith G, Linde K, Sherman KJ, Witt CM, Vickers AJ. Pain. 2017 May;158(5):784-793. doi: 10.1097/j.pain.0000000000000747. Review. PMID: 27764035
JAMA. 2014 Mar 5;311(9):955-6. doi: 10.1001/jama.2013.285478. Acupuncture for chronic pain. Vickers AJ1, Linde K2.
German Acupuncture Trials (GERAC) for chronic low back pain: randomized, multicenter, blinded, parallel-group trial with 3 groups.Haake M, Müller HH, Schade-Brittinger C, Basler HD, Schäfer H, Maier C, Endres HG, Trampisch HJ, Molsberger A. Arch Intern Med. 2007 Sep 24;167
(17):1892-8. Erratum in: Arch Intern Med. 2007 Oct 22;167(19):2072.
Acupuncture and knee osteoarthritis: a three-armed randomized trial. Scharf HP, Mansmann U, Streitberger K, Witte S, Krämer J, Maier C, Trampisch HJ, Victor N. Ann Intern Med. 2006 Jul 4;145(1):12 – 20.
[Acupuncture in orthopedics]. Molsberger A. Orthopade. 2012 Feb;41(2):
100 – 5. doi: 10.1007/s00132-011-1865-8. German.
Informationen zur Forschungsgruppe Akupunktur sowie nützliche Infos und Termine finden Sie unter www.akupunktur.info
Autoren
ist Facharzt für Orthopädie, Zusatzbezeichnungen Akupunktur, Naturheilverfahren und Sportmedizin. Er hat eine Professur an der Ruhr Universität Bochum, im Bereich Orthopädie und ist einer der Initiatoren der GERAC Studien (German Acupuncture Trials) zur Akupunktur bei Spannungskopfschmerz, Migräne, Gonarthrose und Kreuzschmerz.
Weitere Informationen unter www.boewing-molsberger.de