Apophysen sind sogenannte „sekundäre Ossifikationszentren“ an den Insertionsstellen
von Muskelsehnen und reifen erst zum Ende der zweiten Lebensdekade (Pubertät) vollständig aus [14]. Auf sie wirken bereits vor der knöchernen Fusion mit dem angrenzenden Knochen vor allem bei intensiven Trainingsbelastungen große Zug- und Biegekräfte und sind daher sehr vulnerabel für Verletzungen [1, 15 – 17].
Sportarten wie Fußball zählen durch etliche Sprints und schnelle Richtungswechsel oder Sprünge mit hoher Muskelspannung zu den Risikosportarten [16]. Zwar werden verschiedene Faktoren im Rahmen der Pubertät als mögliche Ursachen wie z. B. ein individuelles Wachstum im Vergleich zu chronologisch gleichaltrigen, der hormonelle Status sowie Veränderungen der biomechanischen und neuromotorischen Verhältnisse diskutiert [5 – 7], jedoch ist die Trainingsbelastung als behandlungsrelevanter Faktor, vor allem bei Nachwuchsfußball plausibel. Regelmäßiges und intensives Training kann zu Überlastungen in Form von repetitiven Mikrotraumata führen und in manchen Fällen sogar einen vollständigen Ausriss, eine so genannte Avulsionfraktur, verursachen. Avulsionsfrakturen sind selten, jedoch liegt die Prävalenz, vor allem für männliche heranwachsende, deutlich höher als bei skelettal ausgereiften Athlet:innen [2]. Überlastungsbedingte Verletzungen machen im Nachwuchsfußball bis zu 40 % aller Ausfälle aus [18, 19]. In einer Studie mit knapp 550 Nachwuchsfußballern in den Altersklassen U9 – U19 und einem Beobachtungszeitraum von vier Spielzeiten wurden Verletzungen der Wachstumszonen (Epiphyse und Apophyse) neben Kontusionen und Distorsionen als häufigster Grund für einen verletzungsbedingten Trainingsausfall im Nachwuchsprofifußball registriert [2]. Avulsionsfrakturen werden häufig unterschätzt und inadäquat therapiert, was vor allem im Profifußball nicht nur sportliche, sondern auch wirtschaftliche Konsequenzen für Athlet und Verein nach sich zieht und im schlimmsten Fall sogar das Karriereende bedeuten kann.
Diagnostik
Anamnestisch beschreiben Athlet:innen häufig beim Sprint oder abrupten Richtungswechsel einen plötzlich einschießenden Schmerz im Übergangsbereich von Gesäß zum hinteren Oberschenkel. Dies ist zur ersten Einschätzung bereits wegweisend. Mittlerweile kann in den meisten Nachwuchsleistungszentren über die Abteilung der Spielanalytik auch auf Videomaterial von Trainingseinheiten oder vom Spieltag zurückgegriffen werden, was dem Verständnis zum Unfallmechanismus helfen kann. Klinisch ist ein Druckschmerz im Bereich des Sitzbeins (lat.= Tuber ischiadicum) und dem angrenzenden Ansatz des Hamstringsehnenkomplex (sog. Conjoint Tendon) charakteristisch. Schmerzen bei aktiver Kniebeugung oder Hüftstreckung aus der Bauchlage mit oder ohne verminderte Kraft (Seitenvergleich) sind ebenfalls typische Befunde. Die klinisch – manuelle Untersuchung hat in der täglichen physiotherapeutischen Behandlung mit dem Athlet:innen einen wichtigen Stellenwert und hilft Verletzungen bereits im Stadium einer Überlastung rechtzeitig zu erkennen und entsprechend zu behandeln. Im engen Austausch mit der sportlichen Leitung sind Anpassungen der Trainingsbelastungen im Umgang mit Überlastungsreaktionen im Muskelsehnenbereich notwendig und oft mitentscheidend um lange Ausfallzeiten zu vermeiden. Hypoechogene Areale im Sehnenübergang oder unregelmäßige Knorpel-Knochenübergänge im Ultraschall können erste Hinweise auf eine strukturelle Verletzung liefern. Vor allem ermöglichen neuere portable Ultraschallmodelle erste bildgebende Befunde am Ort des Geschehens.
Durch die Zunahme allgemeiner Sportaktivität in der Bevölkerung in den letzten Jahren und das bessere Verständnis für sportassoziierte Verletzungen empfiehlt es sich die MRT-Diagnostik, vor allem im Nachwuchsleistungssport, großzügig miteinzubeziehen. Therapierelevante Befunddetails und Begleitpathologien, insbesondere die vulnerablen Wachstumsfugen lassen sich in der MRT detailliert darstellen, auch wenn ein konventionelles Röntgen eine Avulsionfraktur in den meisten Fällen abbildet.
Therapie
Die Therapie erfolgt im Allgemeinen konservativ und umfasst eine Teilentlastung an Gehstützen sowie eine eingeschränkte Hüftbeugung mit kombinierter Kniestreckung. Nach sechs Wochen kann die Rehabilitation mit aktiven Bewegungsübungen und ein vorsichtiger Muskelaufbau begonnen werden. Eine vollumfängliche Sportfreigabe sollte grundsätzlich immer bei Schmerzfreiheit und vollständig wiederhergestellter ROM (Range of Motion) sowie bei seitengleicher Beinkraft erteilt werden. Nach gegenwärtiger Literatur heilen knapp 80 % unter konservativ geführter Therapie erfolgreich aus, wobei eine Komplikationsrate bis zu 30 % dem gegenüber stehen [9]. Eine typische Komplikation ist die Pseudarthrose. Persistierende Beschwerden und ein Kraftdefizit im Seitenvergleich auch nach mehr als 6 Wochen können auf einen gestörten Heilungsprozess hinweisen, wie auch in diesem präsentierten im Fallbeispiel. Entlang verschiedener Studien der letzten Jahre zeigt der Trend, insbesondere Sportler: innen ab einer Frakturdislokation von ≥ 1,5 cm operativ zu therapieren, um eine Primärstabilität herzustellen und Komplikationen sowie lange Ausfallzeiten zu vermeiden [10 – 13].
Fallbeispiel
Ein 16-jähriger Nachwuchsprofifußballer hat sich mit seit vier Monaten bestehenden Beschwerden im hinteren Oberschenkel- / Gesäßbereich vorgestellt. Initial habe er bei einem Zweikampf um den Ball einen plötzlich einschießenden Schmerz im hinteren Oberschenkel verspürt. Seitdem seien belastungsabhängige Schmerzen und eine deutliche Kraftminderung zurückgeblieben. Anfänglich als „Muskelzerrung“ gewertet, wurde eine Trainingspause für drei Wochen und mehrere Sitzungen Physiotherapie verordnet. Eine schmerzfreie Rückkehr zum vollumfänglichen Training konnte jedoch nicht erreicht werden. Klinisch zeigte sich ein erhöhter Grundtonus der Hamstringmuskeln und ein Druckschmerz am ansatznahen Sitzbein.
In der Mobilitätstestung führte die Hüftbeugung mit gestrecktem Knie bereits bei 70 ° zu Schmerzen am beckennahen Hamstringsehnenansatz. Die anschließende Röntgenaufnahme (Abb.1) ergab eine Avulsionsfraktur mit vollständiger Ablösung der Apophyse am rechten Sitzbein mit beginnender Kallusbildung. In der MRT – Aufnahme des Beckens (Abb. 2 a + b) konnte die Avulsion mit ausgeprägtem Ödem im Frakturspalt deutlich dargestellt werden. Die Sehneninsertion am Fragment zeigte sich intakt. Der Befund wurde im Beisein der Eltern ausführlich besprochen und die Indikation zur operativen Therapie gestellt.
OP-Durchführung und Nachbehandlung
Der Patient wurde in Bauchlage mit frei beweglichem Bein gelagert. Der Zugang erfolgte über einen ca. 8 cm langen horizontalen Hautschnitt mittig auf Höhe der Gesäßfalte. Nach Eröffnung der Faszie folgte die Freilegung und Darstellung der Fraktur und des Sehneninsertionsgebietes unter aufwendiger Separation von umliegenden Narbengewebe. Die proximalen Anteile der Hamstringsehne wurden für die spätere Reposition ebenfalls vom Narbengewebe separiert. Dann wurde das Fragment vollständig vom Sitzbeinknochen gelöst. Die Frakturenden wurden mit dem scharfen Löffel angefrischt, mittels Repositionszange reponiert und mit einem Kirschner-Draht fixiert. Nach Repositionskontrolle unter Bildverstärker – Durchleuchtung wurde das Fragment mit 2 Kleinfragmentschrauben von ca. 30 mm Länge fixiert (Abb. 3 a + b). Die Hamstringsehne wurde zusätzlich mittels FibreWibre® (FA Arthrex) am noch bestehenden Sehnenanteil des Sitzbeins fixiert. Beim Durchbewegen des Beines zeigte sich eine stabile Osteosynthese und regelrechte Sehnenspannung. Nach ausgiebiger Spülung und Einlage einer Drainage erfolgte der schichtweise Wundverschluss. Die Nachbehandlung erfolgte frühfunktionell orthesenfrei mit einer Teilbelastung (15 kg) an Gehstützen für 6 Wochen. Unter engmaschigen Kontrolluntersuchungen gestaltete sich der postoperative Verlauf komplikationslos. Die Röntgenkontrolle nach 6 Wochen (Abb. 4) zeigt eine zeitgerechte Frakturkonsolidierung, so dass ein Übergang zur Vollbelastung freigegeben werden konnte. Weitere Belastungssteigerungen erfolgten schrittweise und im engen Austausch mit den Teamphysiotherapeuten der Rehabilitationsabteilung. Der Wiedereinstieg in das fußballspezifische Training wurde erst nach zwölf Wochen und bei seitengleicher Beinkraft (isokinetische Kraftmessung) freigegeben.
Fazit
- Avulsionsfrakturen am Becken sind typische Sportverletzungen, insbesondere bei Jungen im Nachwuchsfußball
- Überlastungsbedingte Verletzungen zählen zu den häufigsten Gründen für einen Ausfall im Nachwuchsfußball
- eine überlastungsassoziierte Apophysitis oder Tendinitis kann bei Sportlern inadäquat behandelt zu einer traumatischen Avulsionsfraktur führen und sollte daher bereits bei ersten klinischen Anzeichen (beckennahe Ansatzschmerzen) abgeklärt werden
- Die MRT – Diagnostik ist der Goldstandard und sollte bei Heranwachsenden bereits beim geringsten Verdacht auf eine Apophysenbeteiligung durchgeführt werden
- Die Therapie kann in den meisten Fällen konservativ erfolgen, jedoch sollten Patienten mit hohem sportlichen Anspruch, insbesondere Profisportler:innen, ab einer Dislokation ≥ 1,5 cm operativ therapiert werden
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Autoren
ist Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie sowie Sportphysiotherapeut. Er ist an der Charité – Universitätsmedizin Berlin, Abteilung Sportmedizin, tätig. Außerdem ist Dr. Kim Teamarzt des Deutschen Fußball Bundes (DFB), Junioren.
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ist Facharzt für Chirurgie. Er ist Geschäftsführender Direktor Centrum für Muskuloskelettale Chirurgie (CMSC) an der Charité Universitätsmedizin Berlin. Er ist aktuell 2. Vizepräsident der DGOU und 2. Vizepräsident der DGU. 2025 tritt er die DGU-Präsidentschaft an.
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