Die Behandlung der so genannten unspezifischen Rückenschmerzen erfordert immer noch viel Geduld und Motivation für eine langfristige Bindung an Bewegungstherapie und einem gesundheitsförderlichen Verhalten. Hierbei können heute Gesundheits-Apps einen wesentlichen Beitrag leisten.
Rückenschmerzen sind eine der häufigsten Gesundheitsbeschwerden weltweit. Bei in Deutschland erhobenen Daten zur Prävalenz berichten 61,3 % der Befragten von Rückenschmerzen innerhalb des letzten Jahres [1]. Schmerzen des unteren Rückens traten hierbei mit 52,9 % doppelt so häufig auf wie Schmerzen des oberen Rückens mit 27,4 %. Rückenschmerzen verursachen erhebliche Arbeitsunfähigkeitstage und zählen nach psychischen Erkrankungen auch zu den häufigsten Ursachen von vorzeitiger Berentung [2]. Bei den häufigen „unspezifischen“ Rückenschmerzen kann kein eindeutiger Hinweis auf eine spezifische Ursache gefunden werden. Man muss aber davon ausgehen, dass der hohe Anteil von über 80 % „unspezifischen“ Ursachen, wie er seit Jahrzehnten postuliert wird [3], deutlich überschätzt wird. Nach der Nationalen VersorgungsLeitlinie (NVL) „nicht-spezifischer Kreuzschmerz“ [4] sind spezifische Ursachen bei länger andauernden Schmerzen auszuschließen, was jedoch bis heute nur sehr zurückhaltend erfolgt. Durch den Einsatz moderner Bildgebung wie MRT und CT sowie interventioneller invasiver Diagnostik ist es häufig möglich, strukturelle Ursachen, wie z. B. Pathologien an den Facettengelenken oder an den Bandscheiben als Ursache der Rückenschmerzen zu identifizieren.
Multimodale Therapiekonzepte sind erfolgversprechend
In den meisten Fällen wird eine konservative Therapie eingeleitet, wobei eine kräftigende und stützende Bewegungstherapie zusammen mit einer kurzzeitigen medikamentösen Schmerzbehandlung die Basis der Behandlung darstellt und Rückenschmerzen signifikant lindern kann [5, 6]. Das größte Risiko besteht in der Entwicklung der Chronifizierung, die sich in ca. 10 % entwickelt. Diese entwickelt sich gehäuft, wenn psychosoziale Risikofaktoren vorliegen wie Depressivität, Stress, Gefühl der Hilfslosigkeit und Hoffnungslosigkeit sowie ein ausgeprägtes Schonungs- und Vermeidungsverhalten. Daher haben sich in der Behandlung länger andauernder und häufig wiederkehrender Rückenschmerzen so genannte multimodale Therapiekonzepte durchgesetzt, die neben der Bewegungstherapie weitere Ansätze, u. a. Verhaltenstherapie, Psychotherapie, Didaktik etc. integrieren. In mehreren Studien konnte die Überlegenheit dieser multimodalen Therapie bei chronischen und subakuten Rückenschmerzen nachgewiesen werden [7 – 9]. Allen Behandlungskonzepten eigen ist allerdings die Bedingung, dass diese neben der Verstetigung der Bewegungstherapie auch langfristige Veränderungen des Lebensstils, der Ernährung, Stressreduktion und Förderung einer psychosozialen Gesundheit beinhalten. Diesen Ansatz verfolgt die Rehabilitation, wobei nach einem mehrwöchigen Aufenthalt in einer ambulanten oder falls nötig in einer stationären Rehabilitationseinrichtung dann ein mehrmonatiges Nachsorgeprogramm für eine nachhaltige Sicherung des Therapieerfolgs sorgt [10].
Teletherapie bei Rückenschmerzen
In den letzten Jahren hat sich der Einsatz von digitalen Gesundheitsanwendungen stark entwickelt. Diese Apps bieten eine breite Palette von Funktionen, die Menschen dabei unterstützen können, ihre Gesundheit zu überwachen, zu pflegen und zu verbessern. Der erfolgreiche Einsatz gerade bei muskuloskelettalen Beschwerden und insbesondere bei Rückenschmerzen konnte in den letzten Jahren in mehreren Untersuchungen gezeigt werden [11 – 13]. Die App-Nutzung ist zu flexiblen Zeiten rund um die Uhr und zu Hause möglich, sie muss hier aber auch in den Alltag integriert werden. Daraus folgt eine Stärkung der Eigenverantwortlichkeit, wodurch eine langfristige Verhaltensänderung zuverlässiger erreicht werden kann.
Digitale Apps als Unterstützung für die ambulante Rückenschmerztherapie
Seit dem Inkrafttreten des Digitale-Versorgung-Gesetzes (DVG) 12/2019 haben die ca. 73 Mio. gesetzlich Versicherten die Möglichkeit, eine Versorgung mit einer Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) „auf Rezept“ zu erhalten. Zwischenzeitlich listet das DiGA-Verzeichnis 55 dauerhaft und vorläufig aufgenommene Anwendungen auf, wobei zwei spezifisch für die Behandlung von Rückenschmerzen eingesetzte Apps (Kaia Rückenschmerzen, ViViRA) bereits dauerhaft aufgenommen sind. Anleitungen oder Videos zu bewegungstherapeutischen Übungen helfen, gezielte Übungen zur Stärkung der Rückenmuskulatur selbstständig und mit nur wenigen zusätzlichen Hilfsmitteln durchzuführen. Die Apps können zwischenzeitlich auf ein sehr großes Spektrum von Übungen zurückgreifen. Eine technologische Weiterentwicklung integriert die Kameras des Smartphones in der Kaia-App. Dadurch können Ausführung der Übung und die Haltung des Nutzers überprüft, mit der korrekten Ausführung abgeglichen und korrigiert werden. Die Kaia-App gibt hier ein Echtzeit-Feedback. Auch Entspannungstechniken und Stressmanagement sind integriert. Die Therapieprogramme werden je nach Risikograd, Indikation und Konstitution individuell zusammengestellt. Erste Studien zeigen bereits sehr vielversprechende Effekte [14, 15].
Tele-Nachsorge-Apps sichern Behandlungserfolg nach einer orthopädischen Rehabilitation
Den Ansatz einer langfristigen Anbindung an ein gesundheitsförderliches Verhalten verfolgen auch die Anwendungen der Tele-Nachsorge. Im Anschluss an eine mehrwöchige Rehabilitation helfen Tele-Nachsorge-Apps, die Eigenaktivität durch Unterstützung mit Übungen, edukativen Inhalten und psychologischen Anwendungen in den Alltag zu integrieren. Durch digitale multimodale Therapieprogramme kann dies flexibel und selbstbestimmt umgesetzt werden. Insgesamt ist dadurch eine höhere Anbindung und Compliance zu erwarten. Von der DRV sind hierzu bis heute zwei Anwendungen in die Regelversorgung aufgenommen worden (Caspar, EvoCare). Physiotherapeuten interagieren per Tele-App direkt mit den Patienten, sodass ein sehr individueller Nachbetreuungsstandard erreicht wird. Auch hier zeigen erste Studien zur Wirksamkeit der Nachsorge-Apps positive Effekte [16]. Interessant sind erste Modellversuche im Rahmen von Präventionsprogrammen der Rentenversicherung (RV Fit Hybrid), bei denen sich kurze Einheiten des Trainings in Reha-Einrichtungen und langfristige App-basierte Trainingsphasen abwechseln.
Fazit
Digitale multimodale Therapie-Apps für Rückenschmerzen liegen im Trend und überzeugen vor allem durch Flexibilität und eine hohe Nutzerfreundlichkeit. Die heute bereits vorhandenen Anwendungen im ambulanten Bereich und der Nachsorge werden ständig durch weitere Einsatzgebiete und neue Lösungen erweitert. Insbesondere die automatisierten Feedback-Funktionen, wie sie bereits in ersten Anwendungen umgesetzt sind, versprechen künftig durch Weiterentwicklungen der Sensorik und von Algorithmen und nicht zuletzt durch die Einbindung von KI-basierten Techniken einen großen Entwicklungssprung.
Literatur
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Autoren
ist Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie und Chirurgie mit Schwerpunkt spezielle Unfallchirurgie sowie mit Zusatzqualifikationen Sportmedizin und Physikalische Therapie. Er leitet den Zentralen Funktionsbereich Medizin bei Nanz Medico und ist Chefarzt des Zentrums für Ambulante Rehabilitation (ZAR) in Friedrichshafen. Er leitete bis 2020 das Institut für Rehabilitationsmedizinische Forschung an der Universität Ulm und ist Autor von zahlreichen Arbeiten und Buchbeiträgen auf dem Gebiet muskuloskelettaler Erkrankungen. Er gründete u.a. die „Kommission Digitalisierung“ der Deutschen Gesellschaft für Physikalische und Rehabilitative Medizin.