Verspannungen, Einschränkungen und Schmerzen im Bereich Rücken, Schultern, Nacken – das kennen wir alle. Viele von uns sitzen von morgens bis abends vor dem Computer, andere haben körperlich anstrengende Berufe. Unsere ständigen Fehlhaltungen und einseitigen Bewegungsmuster fördern leider diese Beschwerden. Was tun, wenn ich viel sitze? Oder wenn ich immer wieder die gleichen schweren Bewegungen ausführen muss und dadurch belastet bin? Der Arzt und Bewegungsspezialist Dr. Peter Poeckh hat auf Basis langjährige Erfahrung und als teils Betroffener die besten Methoden gegen die häufigsten Beschwerden in Rücken – Schultern – Nacken entwickelt.
Warum ist Bewegungsarmut die moderne Volkskrankheit?
Unser gesamtes Leben ist mittlerweile hoch technisiert, und das zeigt sich auch anhand der Veränderungen in unseren Bewegungsabläufen. Wir benutzen Fahrstühle, bestellen unser Essen beim Lieferservice, starren stundenlang auf den Computerbildschirm oder das Handy und stimulieren kaum noch unseren gesamten Organismus, insbesondere nicht unsere Muskeln, Sehnen und Faszien. Mittlerweile sind sogar moderne Krankheitsbilder entstanden, beispielsweise der ‚Handy-Nacken‘ oder der ‚WhatsApp-Daumen‘. Diese Erkrankungen sind äußerst schmerzhaft und können verheerende Auswirkungen auf unsere gesamte körperliche Gesundheit haben.
Warum ist es oftmals schwer, die Ursache der Schmerzen herauszufinden?
Das hat seinen guten Grund, und der liegt in den sogenannten funktionellen oder unspezifischen Beschwerden. Über 80 Prozent der Rückenschmerzen haben keine organische, sondern eine funktionelle Ursache. Das bedeutet, dass in lediglich 10 bis 20 Prozent der Fälle die Radiologin oder der Orthopäde auf dem Röntgenbild oder im MRT eine strukturelle oder organische Ursache für die Beschwerden findet. Diese wäre z. B. ein Bandscheibenvorfall, Osteoporose, ein Gleitwirbel oder ein Tumor. Glücklicherweise sind diese Ursachen aber selten der Auslöser von Schmerzen im Bewegungsapparat. Viel weiter verbreitet sind genannte funktionelle Ursachen, die insbesondere das Muskel- und Fasziengewebe betreffen. Und speziell die Bereiche Rücken, Schultern und Nacken sind für nicht-organische Beschwerden prädisponiert.
Warum sind gerade Rücken-, Schulter- und Nackenschmerzen so bedenklich?
Wir alle kennen Verspannungen, Einschränkungen und Schmerzen in Rücken, Schultern und Nacken. Diese Regionen sind nicht nur die, in denen sich Beschwerden im Bewegungsapparat am häufigsten lokalisieren, sie sind zudem Dreh- und Angelpunkt für weitere Symptome und Krankheitsbilder in anderen Bereichen des Körpers, etwa in Hüfte, Armen und Beinen. Unsere ständigen Fehlhaltungen und einseitigen Bewegungsmuster fördern die Beschwerden leider noch.
Sind auch Sie betroffen?
Ja, ich hatte ein sogenanntes Impingement, eine schmerzhafte Einschränkung in der Schulter, und kenne die Beschwerden durch viel Arbeit am Computer und Überlastungen durch intensiven Sport. So etwas geht an niemandem spurlos vorüber. Erst wenn man solche Erfahrungen selbst gemacht hat, lernt man Schmerzfreiheit und uneingeschränktes Körperempfinden wahrhaft zu schätzen. Doch mit den richtigen Übungen kann ich mir wie auch andere sich in den meisten Fällen sehr gut selbst helfen.
Und haben Sie gegen Ihre Schulterenge getan?
Durch die persönliche Erfahrung habe ich erst erkannt, dass Dehnungs- und Mobilisationsübungen beim Impingement keinen wirklichen Effekt haben, aber trotzdem häufig angepriesen werden. Stabilität im Gelenk und Kraft der wichtigen Muskulatur rundherum hat geholfen in die Schmerzfreiheit zurückzufinden.
Sie sind auch Yogatherapeut und Yogalehrer. Hilft Yoga auch bei Rücken,-Schultern- und Nackenproblemen?
Absolut! Vor allem dann, wenn wir die Asanas (die Haltungen im Yoga) sinnvoll an die Beschwerden anpassen. Dafür ist ein gutes Grundlagenwissen in Anatomie oder in Yogatherapie aus Sicht des Lehrenden erforderlich.
Warum ist Bewegung fast ein Allheilmittel?
Weil sie das natürlichste und beste Mittel ist, um lange gesund und fit zu bleiben. Bewegung beugt klassischen Zivilisationskrankheiten wie Schlaganfall und Herzinfarkt vor, sie lindert Rückenschmerzen und verhindert, dass unser Körper in seinen Basisfunktionen allzu rasch abbaut. Der Mensch ist zum Gehen und Laufen geboren. Dadurch werden unsere Knochen, die verschiedenen Gewebearten, also Muskeln, mit Sauerstoff versorgt. Da wir mittlerweile jedoch, wie gesagt, einen Lebensstil pflegen, bei dem wir überwiegend sitzen, müssen wir uns permanent neu und selbst dazu motivieren, unseren Körper in Schwung zu halten.
Wie viel Bewegung ist gut?
Laut WHO sterben jährlich etwa sieben Millionen Menschen an den Folgen des Rauchens – während am Sitzen und seinen Folgeerscheinungen rund fünf Millionen Menschen pro Jahr sterben. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt als Mindestmaß 150 Minuten moderate Bewegung wie z. B. Joggen oder Radfahren oder 75 Minuten intensiveres Work-out wie Fitness, Gymnastik oder Krafttraining pro Woche. Leider gelingt es aber den meisten von uns nicht, diese Regelmäßigkeit mittel- oder gar langfristig durchzuhalten.
Gibt es typische falsche Bewegungsmuster?
Der menschliche Körper ist das Individuellste, das wir uns vorstellen können. Dennoch gibt es häufige Bewegungsmuster, die wir uns mehr oder weniger alle aneignen. Entweder um bestimmten Bewegungen auszuweichen, die unangenehm oder scheinbar unmöglich sind, oder um nicht allzu weit aus unserer Komfortzone herauskommen zu müssen. Nach etwa 10 000 Patientinnen und Patienten sowie mehreren Tausend Stunden Yoga- und Bewegungsunterricht kann ich sagen, dass in etwa 98 Prozent aller Fälle die immer gleichen Fehlhaltungsmuster auftreten. Im Bereich Rücken, Schultern und Nacken sind das die folgenden:
- Übermäßiges Hohlkreuz (Hyperlordose)
- Rundrücken (Hyperkyphose)
- Schultern heben
- Nacken stauchen
Wie entstehen falsche Bewegungsmuster?
Die Fehlhaltungsmuster entstehen durch wiederholte, unbewusste, falsche Bewegungsmuster. Niemand geht absichtlich permanent in ein übermäßiges Hohlkreuz oder macht bewusst andauernd einen Rundrücken. Vielmehr ist das ist ein Prozess, der sich über einen langen Zeitraum ergibt. Das Gemeine bei den Fehlhaltungen ist: Sie sind quasi der Bluthochdruck des Bewegungsapparates. Man merkt relativ lange nicht, dass es ein Problem werden könnte, aber ein Fehlhaltungsmuster führt irgendwann zu einer Fehlfunktion. Dann nimmt man Schonhaltungen ein – und es kommt zu Schmerzen und Bewegungseinschränkungen im Körper. Das dann wieder rauszubekommen dauert länger, als wenn ich gleich versuche, Fehlhaltungsmuster zu regulieren oder zu korrigieren.
Wie kann man sich selbst helfen?
Im absoluten Akutfall steht uns die moderne Medizin zur Verfügung, das ist auch wichtig und in Ordnung. Aber mittel- und langfristig muss man schauen, dass man das funktionelle Problem in den Griff bekommt und das Risiko reduziert, dass so etwas nochmal vorkommt. Dafür ist regelmäßige und sinnvolle Bewegung wichtig und die muss nicht kompliziert sein.
Kann man beim Üben Fehler machen?
Die meisten Menschen dehnen zu kurz – fünf oder zehn Sekunden, manchmal 20 Sekunden. Auch die moderne Faszienforschung zeigt auf, dass bei einer so kurzen Dauer kein nachhaltiger Effekt zuerwarten ist. Denn erst nach frühestens 30 Sekunden beginnen die Faszien, sich zu verformen, zu transformieren und elastischer zu werden. Deswegen habe ich ganz bewusst bei meinen Übungen die Dauer, die jede Position in der Dehnung gehalten werden sollte, mit mindestens 30 Sekunden angegeben. Nur dann kommt man in einen Bereich, in dem ein Fortschritt und Erfolg spürbar werden.
Wie intensiv soll man üben?
Die Übungsintensität hängt vom Schmerz ab, und zwar nicht vom eigentlichen Schmerz, sondern vom Dehnungsschmerz. Er ist kein richtiger Schmerz, sondern mehr ein Dehnungsgefühl und sollte nach Beendigung der Übung ein noch angenehmes Empfinden vermitteln und Erleichterung bringen. Am Ende der Übung sollte der Dehnungsschmerz somit nicht mehr spürbar sein. Wir benötigen dieses Gefühl aber, um effektiv zu üben und Muskeln, Sehnen sowie Faszien dahingehend zu stimulieren, dass ein Reparaturmechanismus auf physiologischer Ebene eingeleitet wird und eine Entspannung in diesen Bereichen erfolgen kann. Ist der Dehnungsschmerz nicht mehr angenehm oder man hat das Gefühl, dass es irgendein anderer Schmerz ist, welcher Art auch immer, ist, sollte man die Übung stoppen.
Und wie lange?
10 bis 15 Minuten pro Tag reichen vollkommen aus, um nachhaltige Effekte auslösen zu können und eine gesunde und wirkungsvolle Übungsroutine zu etablieren. Oft reichen zu Beginn auch Bewegungseinheiten dreimal pro Woche. Denn hier gilt eindeutig das Motto: Weniger ist mehr! Regelmäßigkeit ist Trumpf, nicht das einmalige Besteigen des Mount Everest ist das große Ziel, sondern dranbleiben und weitermachen.
Kräftigen oder dehnen – was ist besser?
Bei Schmerzen, die nicht auf ein Entzündungsgeschehen zurückzuführen sind oder keine organische Ursache wie beispielsweise Osteoporose haben, sollte man vorrangig Dehnungs- und Mobilisationsübungen ausführen. Kräftigen bedeutet anspannen. Dazu ein kleines Experiment: Verschränken Sie Ihre Finger ineinander und erzeugen einen festen Gegendruck. Sie können die Hände nicht mehr voneinander lösen. Das ist ein ähnliches Prinzip wie bei der Kontraktion der Muskulatur. Ist etwas angespannt und erzeuge ich noch mehr Spannung, wird in den meisten Fällen der Schmerz kontraproduktiv langfristig verstärkt. Erst wenn das Muskelgewebe aufgelockert und das Fasziengewebe wieder elastisch ist, kann der Schmerz reduziert werden. Ist man wieder schmerzfrei sollte man vor allem präventiv arbeiten. Dann sind auf jeden Fall Kräftigung und Stabilität als Fokus angesagt.
Was können Vielsitzer täglich tun um mehr Bewegung in ihren Alltag zu bringen?
Die Lösung ist, mehr Abwechslung in der Arbeitsposition zu bringen. Soforthilfen sind beispielsweise alle 20 bis 30 Minuten aufzustehen und eine kleine Runde durch den Raum zu drehen. Oder wer im in einem Büro arbeiten, kann zwischendurch hin zu Kolleg*innen gehen statt eine Mail zu schreiben. Das verbessert im Übrigen auch die interne Kommunikation. Hilfreich ist auch, prinzipiell im Stehen zu telefonieren sowie Meetings im Stehen abzuhalten. Oder die Pausen zu nutzen, um aufzustehen und bestenfalls nach draußen zu gehen. Ich habe fünf ‚Quickie-Moves‘ erstellt, die schnell helfen, im Büro und Alltag sich etwas Bewegung zu verschaffen.
Was sind die Quickie-Moves für Büro und Alltag?
Mit den Übungen kann man bei wenig Zeit trotzdem ein bisschen in Bewegung kommen oder bleiben. Denn schon sehr wenig tun kann einen großen Unterschied machen!
Übung 1: Schulteröffnung
Stellen Sie sich aufrecht hin, die Füße sind hüftbreit auseinander. Führen Sie die Arme nach hinten und verschränken Sie die Finger. Die Handrücken zeigen dabei nach außen. Alternativ können Sie auch zum Unterarm greifen. Beim Einatmen strecken Sie sich nach hinten und drücken auch die Hände nach hinten und unten (1). Beim Ausatmen beugen Sie sich nach vorn (2). Achtung bei unbehandeltem Bluthochdruck oder Herzerkrankungen, Migräne oder erhöhtem Augeninnendruck: Hier sollte eine Vorbeuge nur kurz gehalten werden. Schwindel oder Schmerz ist ein Zeichen, die Übung nicht durchzuführen! Wiederholen Sie die Übung langsam 10- bis 12-mal. Am Ende halten Sie die Vorbeuge für etwa 30 Sekunden
Übung 2: Rückbeuge auf einem Stuhl
Auf einem Stuhl sitzend strecken Sie die Arme schulterbreit nach hinten und lassen sich bestmöglich nach hinten fallen. Sie können dabei mit der Höhe der Stuhllehne spielen, indem Sie auf dem Stuhl vor- und zurückrutschen. Auf diese Weise können Sie unterschiedliche Höhen und Regionen in der Brustwirbelsäule mobilisieren. Halten Sie die Position für 30 bis 60 Sekunden pro Variante.