Kreuzschmerzen gehören zu den häufigsten Gesundheitseinschränkungen weltweit und sind mit relevanten gesundheitsökonomischen Aspekten verbunden [1]. Epidemiologische Studien belegen, dass chronische Kreuzschmerzen einen negativen Einfluss auf die körperliche
und psychische Gesundheit sowie auf die Arbeitsfähigkeit und Lebensqualität der betroffenen Individuen haben [2].
Hoy et al. haben eine weltweit durchschnittliche Prävalenz für chronische Kreuzschmerzen von 31 % nachgewiesen. Dabei wird die höchste Prävalenz bei Frauen und Personen im Alter von 40 bis 80 Jahren beobachtet [1]. Rückenschmerzen können genetische und erworbene Ursachen haben. Weiterhin können Rückenschmerzen durch eine Interaktion des Individuums mit der Umwelt entstehen [3]. Es gibt hinreichende wissenschaftliche Hinweise, dass psychologische Faktoren, wie z. B. Stress, Angst, Stimmung, Emotionen und kognitive Funktionen relevant für das Auftreten von Rückenschmerzen und deren Chronifizierung sind [4]. Psychische Zustände wie Angst, depressive Verstimmung und Stress können Rückenschmerzen begünstigen und triggern. Zusätzlich verleiten Rückenschmerzen ängstliche Patienten häufig dazu, schmerzhafte Bewegungen oder Aktivitäten zu vermeiden, wodurch sie in einen Teufelskreis von Angst, Vermeidung, Behinderung und Verschlechterung der Schmerzen geraten [5]. Eine große aktuelle Meta-Analyse von 15.623 Patienten mit chronischen Schmerzen des Bewegungsapparats, darunter 6.312 mit chronischen Kreuzschmerzen, ergab, dass ein höheres Maß an Angst vor Schmerzen, Stress und Angstvermeidungsverhalten statistisch signifikant mit Schmerzen und Behinderung assoziiert waren [6].
Diese Thesen werden von aktueller Gehirnforschung unterstützt. Es gibt Hinweise, dass die Chronifizierung von Rückenschmerzen nicht einfach das Vorhandensein anhaltende Schmerzsymptome impliziert, sondern einen komplexen Prozess, der mit Veränderungen der Struktur und Funktion im kortikolimbischen System des Gehirns verbunden ist. Vachon-Presseau et al. betonten im Jahr 2016 die Bedeutung des emotionalen Gehirns (d. h. des kortikolimbischen Systems) bei der Modulation akuter Schmerzen und bei der Vorhersage und Verstärkung von chronischen Schmerzen [5]. Emotionale Faktoren scheinen bei der neuronalen Schmerzverarbeitung von akuten bis chronischen Schmerzen eine große Rolle zu spielen.
Biopsychosozialer Ansatz & interdisziplinäre Zusammenarbeit
Aktuelle Behandlungs-Strategien von chronischen Rückenschmerzen konzentrieren sich nicht primär auf die Beseitigung einer zugrundeliegenden organischen Krankheit, sondern vielmehr, im Rahmen eines biopsychosozialen Ansatzes die zugrundeliegenden Mechanismen zu identifizieren. Diese Behandlungskonzepte werden auch als Multimodale Behandlungsprogramme bezeichnet. Multimodale Programme umfassen intensive edukative, somatische, psychotherapeutische, soziale und berufsbezogene Therapieanteile. Aktuelle Studien liefern Hinweise, dass intensive, multidisziplinäre und biopsychosoziale Behandlungen Schmerzen lindern und die Funktionsfähigkeit von Patienten mit chronischen Kreuzschmerzen verbessern können [8 – 9]. Außerdem kann die Wiederaufnahme der Arbeit sowie die Arbeitsbereitschaft positiv beeinflusst werden [9]. Wichtig für die richtige Selektion der Patienten für solche Therapiekonzepte ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Allgemeinmedizinern, Orthopäden, Schmerztherapeuten und Psychologen. Eine somatische Ursache der Schmerzsymptomatik sollte durch einen Wirbelsäulenspezialisten untersucht und geprüft werden. Hier ist es wichtig, traumatische, infektiöse, entzündliche, maligne und stoffwechselbedingte Ursachen für die Beschwerden auszuschließen. Degenerative Veränderungen im Bereich der Wirbelsäule können Ursachen für Rückenschmerzen sein. Hier sollte eine Fehlinterpretation von „normalen“ und bei fast jedem erwachsenen Menschen nachweisbaren degenerativen Veränderungen vermieden werden. Eine sichere Kausalität zwischen den degenerativen Veränderungen und den Beschwerden nachzuweisen, ist oft schwierig und sollte nur von erfahrenen Wirbelsäulenspezialisten erfolgen. Zusätzlich sollte eine Anamnese hinsichtlich einer psychischen Belastung (Arbeitsplatz oder Privat) erfolgen. Bei psychischen Auffälligkeiten (Stress, Depression, Angstzustände) sollte eine psychotherapeutische oder psychologische Vorstellung erfolgen. Diese kann auch im Rahmen einer multimodalen Schmerztherapie durchgeführt werden. Konkret können bei Patienten mit chronischen Kreuzschmerzen und psychischer Belastung Entspannungsverfahren, wie zum Beispiel Progressive Muskelrelaxation oder Autogenes Training angeboten werden. Diese Verfahren sollten auch von den Patienten selbstständig durchgeführt und erlernt werden, sodass diese in stressigen Alltagssituationen angewendet werden können. Entspannungsverfahren können auch mit regelmäßiger Bewegung kombiniert werden. Als Beispiel können regelmäßige Spaziergänge im Park oder im Wald für psychische für Entspannung und Stressabbau, sowie für gesunde körperliche Aktivität sorgen. Diese Empfehlungen sollten im Rahmen der Verhaltenstherapie mit dem Patienten unbedingt besprochen werden.
Fazit
Zusammenfassend gibt es zahlreiche wissenschaftliche Belege, dass Rückenschmerzen und Psyche einen engen Zusammenhang haben. Es ist mittlerweile weitgehend akzeptiert, dass Stress, depressive Verstimmung und Angst Rückenschmerzen begünstigen können und die Prognose der Beschwerden verschlechtern. Zusätzlich können Schmerzen bei depressiven oder ängstlichen Patienten zu einer Bewegungsarmut und Rückzug aus dem sozialen Leben führen. Aus diesen Gründen ist eine frühzeitige Berücksichtigung und Behandlung die psychosozialen Aspekte bei Patienten mit Rückenschmerzen essenziell.
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Handlungsempfehlungen
- Bei Patienten mit chronischen Rückenschmerzen (länger bestehend als sechs Wochen) sollte eine somatische Ursache der Beschwerden untersucht werden. Mittel der Wahl ist eine Kernspintomographie der Wirbelsäule.
- Bei radiologischen Auffälligkeiten in der Kernspintomographie sollte eine orthopädische / Wirbelsäulenchirurgische Konsultation zur Prüfung der Kausalität erfolgen.
- Bei psychischen Symptomen, wie z. B. Angst, Depression oder Stress, sollte eine psychotherapeutische oder psychologische Vorstellung erfolgen.
- Multimodale Therapiekonzepte können bei selektierten Patienten mit chronischen Rückenschmerzen zu einer Verbesserung der Beschwerden und Funktionsfähigkeit führen.
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Literatur
- Hoy D, Bain C, Williams G, March L, Brooks P, Blyth F, Woolf A, Vos T, Buchbinder R. . A systematic review of the global prevalence of low back pain. Arthritis Rheum. . Jun;64(6) 2012 , S. 2028-37. doi: 10.1002/art.34347. Epub 2012 Jan 9. PMID: 22231424.
- Manchikanti L, Singh V, Falco FJ, Benyamin RM, Hirsch JA. . Epidemiology of low back pain in adults. . Neuromodulation. Oct;17 Suppl 2:3-10. doi: 10.1111/ner.12018. PMID: 25395111., 2014 .
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- Vachon-Presseau E, Centeno MV, Ren W, Berger SE, Tétreault P, Ghantous M, Baria A, Farmer M, Baliki MN, Schnitzer TJ, Apkarian AV. The Emotional Brain as a Predictor and Amplifier of Chronic Pain. . J Dent Res. Jun;95(6):605-12. doi: 10.1177/0022034516638027. Epub 2016 Mar 10. PMID: 26965423; PMCID: PMC4924545, 2016.
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- Kamper SJ, Apeldoorn AT, Chiarotto A, Smeets RJ, Ostelo RW, Guzman J, van Tulder MW. Multidisciplinary biopsychosocial rehabilitation for chronic low back pain. . Cochrane Database Syst Re. Sep 2;2014(9):CD000963. doi: 10.1002/14651858.CD000963.pub3. PMID: 25180773; PMCID: PMC10945502, 2014.
Autoren
ist Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie mit Zusatzbezeichnung Spezielle Orthopädische Chirurgie. Er ist Oberarzt in der Klinik für Orthopädie, Unfallchirurgie und Plastisch-Ästhetische Chirurgie der Uniklinik Köln. Sein Schwerpunkt ist der Bereich der Wirbelsäulenchirurgie.
ist der Direktor der Klinik und Poliklinik für Orthopädie, Unfallchirurgie und Plastisch-Ästhetische Chirurgie der Uniklinik Köln. Sein klinischer und wissenschaftlicher Schwerpunkt stellt unter anderem die Behandlung von Wirbelsäulenerkrankungen dar.