Die Arthrose des Schultergelenks (Omarthrose) ist eine häufige Ursache für Schulterschmerzen und -steifheit, welche bis zu 20 % der Erwachsenen über 65 Jahren betrifft. Als nicht lasttragendes Gelenk ist die Schulter zwar deutlich seltener von Verschleißerkrankungen betroffen als etwa das Knie- und Hüftgelenk, dennoch zeigen Schulterprothesen den prozentual größten Zuwachs bei den Prothesenimplantationen in den letzten 20 Jahren.
Dem immer weiter steigenden Funktionsanspruch der Patienten auch im höheren Alter werden inzwischen die Prothesendesigns durch stetige Verbesserungen gerecht. Zur Behandlung der primären Omarthrose bleibt die anatomische Schulterprothese bei intakter Rotatorenmanschette der etablierte Standard. Die Prävalenz von vollständigen Rotatorenmanschettenrupturen bei der primären Omarthrose ist mit 9,1 bis 14,9 % gering. Jedoch kann auch eine Teilverletzung der Rotatorenmanschette die zentrierende Funktion für das Glenohumeralgelenk und damit die Funktion und Standzeit der Prothese maßgeblich beeinträchtigen. Eine relative Schwäche von Teilen der Rotatorenmanschette gegenüber dem Deltamuskel provoziert ein zusätzliches Hochsteigen des Humeruskopfes. Letztendlich können diese Faktoren zu einem vorzeitigen Verschleiß des Implantates, insbesondere des Glenoidersatzes, führen. Abrieb der Gleitkomponenten zieht dann eine frühzeitige Lockerung der Prothese nach sich.
Inverse Prothetik
Bei einer nicht rekonstruierbaren Rotatorenmanschetten Ruptur (einer- oder mehrerer Sehnen) sowie ausgedehnten knöchernen Defekten durch die Dezentrierung des Gelenkes (sogenannte Defektarthropathie) muss zur sogenannten inversen Schulterendoprothese geraten werden. Der Deltamuskel übernimmt durch eine Verschiebung des Drehzentrums des Gelenkes und durch ein Abstützen der Komponente am Oberarmschaft gegen eine Halbkugel an der Schulterpfanne wesentliche Funktionen der Rotatorenmanschette. Gerade bei der inversen Prothetik haben sich in den letzten Jahren erhebliche Verbesserungen im Prothesendesign und im Verständnis der Biomechanik für die Implantation ergeben. Diese können durch dreidimensionale digitale Planungsprogramme in der Operation sehr präzise umgesetzt werden. Alles zusammen hat zu einer wesentlichen Verbesserung der Ergebnisse geführt. Durch die gute plan- und voraussagbare exzellente Funktion der inversen Prothetik wurde die anatomische Prothese gerade bei älteren Patienten mit Partialrupturen und grenzwertiger Sehnenqualität der Rotatorenmanschette zurückgedrängt. Seit 2014 hat die inverse schließlich die anatomische Prothese in absoluten Zahlen überholt, wenngleich die anatomische Prothese einen insgesamt physiologischeren Bewegungsablauf erlaubt und bezogen auf die ältere Studienlage geringere Komplikationsraten aufweist. Zudem ist eine anatomische Prothese bei Versagen in eine inverse Prothese konvertierbar, was insbesondere bei eher jüngeren Patienten ein sehr relevantes Argument für die langfristige Planung ist. Unklarheit besteht jedoch in den funktionellen Konsequenzen und Limitationen der anatomischen Prothese bei Partialrupturen der Rotatorenmanschette.
Komplett- und Partialrupturen
Bei der Betrachtung von Rotatorenmanschettenrupturen unterscheidet man neben den Komplettrupturen und Retraktionsgraden einer Sehne auch Partialrupturen unterschiedlichen Ausmaßes und Lokalisation. Zwar besteht nicht zwangsläufig chirurgischer Handlungsbedarf, jedoch können im zeitlichen Verlauf auch asymptomatische, geringgradige Partialläsionen im Rahmen voranschreitender Degeneration zunehmen und schließlich zu einer Komplettruptur führen. Es muss somit ein potenzieller Funktionsverlust bei Verwendung einer anatomischen Prothese bedacht werden. Eine Partialruptur vergrößert sich in der Regel mit Progressionsraten zwischen 29 und 42 % (Rissgröße > 5 mm) innerhalb von 5 Jahren zu einer kompletten Ruptur. Hierbei ist es unerheblich, ob die Ruptur sich zuvor symptomatisch oder klinisch unauffällig zeigte. Ein weiterer relevanter Aspekt ist der Grad der fettigen Atrophie, als qualitativer Parameter der degenerativen Prozesse. Eine Zunahme dieser Degeneration von Muskel und Sehne wird in über 40 % der Partialrupturen beschrieben. Interessanterweise korrelieren diese degenerativen Veränderungen nicht zwangsweise mit einer unmittelbaren klinischen Verschlechterung.
Während die Frage nach dem richtigen Prothesentyp bei intakter Rotatorenmanschette und primärer Arthrose auf der einen und Defektarthropathie auf der anderen Seite klar zu beantworten ist, mangelt es aufgrund der derzeitigen Datenlage an klaren Handlungsempfehlungen, inwieweit eine anatomische Schulterprothese bei Partialrupturen nachhaltig gute Ergebnisse liefern kann. Es besteht Grund zur Annahme, dass ein biologisch jüngerer Patient einen partiellen strukturellen Schaden der Rotatorenmanschette bei noch guter Muskelqualität kompensieren kann.
Somit würde eine anatomische Prothese den per se höheren funktionellen Anspruch entgegenkommen und für die spätere Zukunft auch noch Revisionsmöglichkeiten offenlassen. Im zunehmenden Alter kommt es zwangsläufig zu degenerativen Prozessen, die zur Abnahme der Muskel- und Sehnenqualität führen. Dadurch wird klar, dass eine Partialruptur dann ein viel höheres Risiko birgt, sich kurzfristiger zu einer Komplettruptur zu vervollständigen. Unter diesem Aspekt scheint die inverse Prothese bei biologisch älteren Patienten vorrangig sinnvoll zu sein.
Es können aus der bestehenden Literatur derzeit jedoch keine Grenzwerte für Alter der Patienten oder Rupturgröße- und Sehnenqualität abgeleitet werden.
Aktuell existieren nur sehr wenige Studien, die explizit vorhandene Partialrupturen bei Verwendung anatomischer Prothesen beleuchten. Nachbetrachtungszeiträume von mehr als fünf Jahren sind gar nicht publiziert.
Kurz- und Mittelfristig ergeben sich jedoch keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich des postoperativen Outcomes im Vergleich zu Prothesen mit intakter Rotatorenmanschette. Insbesondere Partialrupturen des Supraspinatus zeigten keine signifikanten Unterschiede. Bezugnehmend auf die fettige Infiltration der Muskulatur zeigten Schultern mit vorrangig davon betroffenen M. Infraspinatus postoperativ eine reduzierte Außenrotation, jedoch ebenfalls kein signifikant reduziertes funktionelles Outcome. Um bei jüngeren und sehr aktiven Patienten sowohl den funktionellen Ansprüchen als auch den Belastungsanforderungen gerecht zu werden und dabei auch die Möglichkeit einer späteren Revision zu erhalten, kann auch eine Rekonstruktion der Partialruptur erwogen werden. Einige Autoren untersuchten daher anatomische Schulterprothesen mit vor der Implantation versorgten Rotatorenmanschettenrissen. Einmal zeitgleich mit der eigentlichen Prothesenimplantation, aber auch in einem zweizeitigen Vorgehen. Für die Sehnenheilung hat sich ein Alter über 60 Jahren als negativer Prognosefaktor gezeigt und es konnte kein klinisch funktioneller Vorteil gegenüber den Schultern ohne vorherige Partialrupturen nachgewiesen werden. Die Rerupturrate der Nähte entspricht in diesem Kollektiv in etwa der Rate der Größenzunahme der unbehandelten Ruptur. Somit bleibt unklar, ob die Rekonstruktion einen relevanten Nutzen bringt. Möglicherweise limitiert sie aber eben die noch weitere Größenzunahme der Partialruptur.
Empfehlung der Autoren
Stand heute muss die eingangs formulierte Fragestellung, ob eine anatomische Prothese bei Partialrupturen der Rotatorenmanschette gut gehen kann, klar mit „ja kann“ beantwortet werden. Da es jedoch keine hart belastbaren und evidenzbasierten Kriterien für die Entscheidung gibt, sollte das Vorgehen individuell mit den Ansprüchen und Ausgangsvoraussetzungen des Patienten abgewogen werden. In jedem Fall muss eine Aufklärung über die bestehenden Therapieoptionen erfolgen, bei der alle Aspekte mit Vor- und Nachteilen der anatomischen und inversen Schulterprothese diskutiert werden. Dabei muss auch über gegebenenfalls notwendige Revisionsstrategien bei frühzeitigem Versagen oder im langfristigen Verlauf gesprochen werden. Bei guter Funktion und Kraft können Partialrupturen durchaus toleriert werden. Zur Schmerzdifferenzierung kann je nach klinischem Befund auch eine Testinfiltration ins Glenohumeral, AC-Gelenk oder auch subakromial erwogen werden. Ein behutsames chirurgisches Vorgehen bei der Prothesenimplantation ist gerade bei der anatomischen Prothese ausgesprochen wichtig, um durch den Hakenzug eine Sehnenteilläsion nicht zu verschlimmern. Zudem kann auch durch zu große, im Winkel nicht anatomische oder überstehenden Komponenten eine Verschlechterung der Sehenensituation beschleunigt werden. Eine gute dreidimensionale präoperative Planung sollte deswegen heutzutage Standard sein. Bei biologisch sehr jungen Patienten kann auch eine (zeitgleiche) Rekonstruktion der Rotatorenmanschette erwogen werden. Älteren Patienten hingegen darf die inverse Schulterprothese mit gutem Gewissen vorrangig empfohlen werden.
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Autoren
ist Facharzt für Orthopädie und Traumatologie und am Gelenkpunkt – Sport- und Gelenkchirurgie Innsbruck tätig. Davor war er leitender Oberarzt in der Sportorthopädie des Klinikums rechts der Isar der TU München. Seit mehreren
Jahren ist er im Vorstand der AGA-Gesellschaft aktiv und aktuell deren amtierender Präsident.
ist Arzt in Weiterbildung zum Facharzt für Orthopädie und Traumatologie am BG Klinikum Bergmannstrost in Halle/Saale und derzeit Fellow am Gelenkpunkt – Sport- und Gelenkchirurgie Innsbruck.
ist Arzt in Weiterbildung zum Facharzt für Orthopädie und Traumatologie am Universitätsklinikum Triest (Italien) und derzeit Fellow am Gelenkpunkt – Sport- und Gelenkchirurgie Innsbruck.