Schmerz ist eine existentielle Erfahrung (Kiverstein et al 2022). In der Schmerztherapie wird dies über das bio-psycho-soziale Modell interpretiert. Darauf basierend hat sich die kognitive Verhaltenstherapie als strukturierte Herangehensweise etabliert, um somatische, kognitive und verhaltensbezogene Aspekte zu integrieren. Der Ansatz geht davon aus, dass Gedanken auf einen Reiz die Reaktion bestimmen; daher kann der bewusste Umgang mit Gedanken und Interpretation des Reizes, das Verhalten und die Problemlösung beeinflussen (Zusman 2010). Oft wird das Gehirn als zentrales Organ verstanden, wie Descartes (1641) formulierte: „Ich denke, also bin ich.“ Dieses spiegelt sich in Mantras wie „Mind over Matter“ wider, oder im Anspruch an die Schmerzedukation: Wer Schmerz besser versteht, kann ihn auch besser bewältigen (Butler & Moseley 2015). Doch kann das Gehirn unabhängig vom ständigen Feedback des Körpers funktionieren? (Walsh 2019).
In den letzten Jahren haben die Konzepte „Embodiment“ und „Embedment“ an Bedeutung gewonnen, da sie den Körper in der Schmerzerfahrung nicht nur als physisches Objekt, sondern als Bühne für Gefühle und psychische Erfahrungen mit der Umwelt einbeziehen. Die Wechselwirkungen zwischen Gehirn, Körper und Umwelt sind zirkulär und wechselseitig (Tschacher et al 2017). In diesem Artikel wird diskutiert, wie „Embodiment“ und „Embedment“ als Brücke zwischen Theorie und Praxis im bio-psycho-sozialen Modell dienen können.
„Embodiment“ und „Embedment“
„Embodiment“ im allgemeinen bezieht sich auf die Personifizierung, Verkörperung oder Manifestation einer Idee, Art des Seins oder einer Eigenschaft, wie z. B. im Kontext der Psychotherapie (Clark 2015). In der Bewegungstherapie betont es die subjektive Erfahrung des eigenen Körpers (Körperbewusstsein). Der „gelebte Körper“ zeigt sich für die Außenwelt im Körperausdruck (z. B. Schmerzverhalten) (Boyd 2023; Walsh 2019). „Embedment“ beschreibt die Einbettung des Körpers in soziale und physische Kontexte, die maßgeblich die Wahrnehmung und Interpretation von Reizen beeinflussen. In der Schmerztherapie ist die Berücksichtigung beider Konzepte entscheidend: „Embodiment“ beleuchtet die subjektive Dimension des Schmerzes, „Embedment“ den Einfluss externer Faktoren (Tschacher et al 2017).
Schmerz und Disembodiment als Schutz
Die International Association for the Study of Pain (IASP) hat 2020 ihre Definition von Schmerz aktualisiert und ergänzt. Dabei wird u.a. betont, dass „Individuen das Konzept von Schmerz durch ihre Lebenserfahrungen lernen“. Schmerz kann dabei als Schutzmechanismus verstanden werden, der das Überleben eines Organismus gegenüber physischen und psychischen Bedrohungen sichert (Moseley & Butler 2015). Die Fähigkeit zu Lernen ist eine Grundvoraussetzung dafür sich wechselnden Gegebenheiten adaptiv anpassen zu können. Dieses setzt ein plastisches System, nicht nur in allen Sinnen sondern auch im nozizeptiven System voraus (Kosek 2021; Flor 2017; van den Broeke 2024). Der Lernzuwachs kann sich auf intellektuellem, physischen oder sozialem Gebiet ereignen. Aber nicht jeder Lernzuwachs ist Ressourcen fördernd, beispielsweise bei noziplastischen oder neuropathischen Schmerzen. Dabei können Sinne entweder verstärkt (Sensibilisierung) oder reduziert wahrgenommen werden (Dissoziation) (Kosek 2021; Flor 2017; van den Broeke 2024). Eine veränderte sensorische Wahrnehmung, sowohl in der Exterozeption, als auch in der Interozeption hat multiple Konsequenzen. Es wurde gezeigt, dass ein starker Zusammenhang zwischen somatosensorischen Beeinträchtigungen, motorischer Ausführung/Lernen und der Schmerzwahrnehmung besteht (Huang et al 2024; Haslam et al 2023).
Trauma dreht sich hauptsächlich um Entmachtung und Entfremdung vom Körper („Dis-embodiment“) und einer verminderten Fähigkeit, im Hier und Jetzt präsent zu sein. Der Körper wird nicht mehr als Teil des Selbst, sondern als Quelle von Schmerz und Dysfunktion empfunden, besonders bei zunehmenden Einschränkungen der Leistungsfähigkeit (Egan Moog & Pangallo 2021). Dies äußert sich in Form von homöostatischen Dysregulationen, Angstzuständen und einem Gefühl des Kontrollverlusts im Alltag, da der Körper als unvorhersehbar und unzuverlässig wahrgenommen wird. Die Alarmsysteme des Körpers bleiben ständig aktiv und scannen nach Gefahren oder Fluchtmöglichkeiten (Emerson und Hopper 2011; Corrigan et al 2011). Diese Entfremdung führt zu Überforderungen/Unterforderungen da physische (z.B. Durst/Hunger/Schlaf) oder emotionale Bedürfnissse nicht erkannt oder nicht mehr adäquat reguliert werden (Crosswell et al 2024).
Therapeutische Ansätze: Re-Embodiment, Achtsamkeit und Sinnfindung
Ein zentraler Ansatz in der Schmerztherapie ist das Wiederherstellen der Körperwahrnehmung („Re-embodiment“) und die Verbesserung selbstregulativer Prozesse um die hyperaktiven Alarmsysteme zu beruhigen (Crosswell et al 2024). Hippokrates von Kos beschrieb, dass „Die wirksamste Medizin ist die natürliche Heilkraft die im Inneren eines jeden von uns liegt“, aber das erfordert Akzeptanz und Bereitschaft Selbstverantwortung zu übenehmen. Eine fundierte Schmerzaufklärung kann dabei Patienten helfen, ihre Realität anzuerkennen und zu ertragen (Malchiodi, 2020; Butler & Moseley 2015).
Verkörperte Praktiken („embodied practices“) verstärken die Verbindungen zwischen äußeren Empfindungen (Exterozeption) und innerem gefühlten Sinn (Interozeption). In dem Zusammenhang sollte die Aufmerksamkeit gezielt und achtsam auf zu beobachtende Sicherheitshinweise statt auf Gefahrenhinweise gelenkt werden, z.B. indem beruhigende, belebende und erholsame Erfahrungen unterstützt und verstärkt werden. Bewegungsanleitungen, Atemtechniken und Berührungen (Abb. 1) bilden die Grundlage dieses Ansatzes (Pearson et al 2019; Crosswell et al 2024).
Zusätzlich ist die Integration somatischer Erfahrungen in die kognitive Verhaltenstherapie entscheidend, um den Patienten dabei zu unterstützen seine Schmerzen in einen individuell nachvollziehbaren Kontext zu setzen (Boyd 2023). Dabei ist es wichtig nicht-hilfreiche Verzerrungen in Gedanken in Bezug auf Körperempfindungen zu identifizieren und zu bearbeiten. Integration der kognitiven Erkenntnisse kann den Prozess der Sinnfindung („sense-making“) fördern und dazu beitragen, Schmerz nicht nur als Bedrohung wahrzunehmen, sondern als eine Erfahrung, die Teil der eigenen Lebensgeschichte ist (Kiverstein et al 2022). Durch Ausarbeitung individueller Lebenswerte, können wertvolle funktionelle Ziele auch trotz Schmerzen, erabeitet und Handlungs-und Problemlösungsfähigkeiten entwickelt werden (Boyd 2023; Butler & Moseley 2015; Zusman 2010).
Abb. 1 Übung: Von Gefahr zu Sicherheit wechseln
Ziel: Helfen, den physiologischen Zustand von einer Stressreaktion (Gefahr) zu einem entspannten und sicheren Zustand (Sicherheit) zu verschieben.
Schritte:
- Bequeme Position: Setzen oder legen Sie sich in eine bequeme Position, in der Sie sich entspannen können. Stellen Sie sicher, dass Sie sich in einer ruhigen, sicheren Umgebung befinden, in der Sie nicht gestört werden.
- Verankern: Schließen Sie Ihre Augen, wenn Sie sich dabei wohlfühlen. Atmen Sie ein paar Mal tief durch, indem Sie langsam durch die Nase einatmen und sanft durch den Mund ausatmen. Konzentrieren Sie sich darauf, die Oberfläche zu spüren, auf der Sie sitzen oder liegen, und lassen Sie Ihren Körper in diese Position entspannen.
- Aktuellen Zustand erkennen: Beachten Sie körperliche Empfindungen von Stress oder Unbehagen. Dazu können Spannungen, schneller Herzschlag, flache Atmung oder Unruhe gehören. Erkennen Sie diese Empfindungen ohne Urteil an.
- Aktivierung der Sinne
- Sehen: Öffnen Sie Ihre Augen und schauen Sie sich Ihre Umgebung an. Beachten Sie Farben, Texturen und Objekte, die Sie beruhigend oder angenehm finden.
- Hören: Hören Sie auf beruhigende Geräusche in Ihrer Umgebung. Dies könnte das Summen eines Ventilators, das Zwitschern von Vögeln oder leise Hintergrundmusik sein. Falls möglich, spielen Sie entspannende Musik oder Naturgeräusche ab.
- Fühlen: Konzentrieren Sie sich auf eine beruhigende Berührung oder Sensation. Dies könnte die Weichheit einer Decke, die Wärme einer Tasse Tee oder die Textur eines beruhigenden Gegenstands sein.
- Nutzen der positive Vorstellungskraft: Stellen Sie sich einen Ort vor, an dem Sie sich völlig sicher und entspannt fühlen. Dies kann ein realer Ort sein, den Sie bereits besucht haben, oder ein friedlicher, imaginärer Ort. Visualisieren Sie die Details lebhaft—was sehen, hören und fühlen Sie dort?
- Tiefes Atmen: Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf Ihre Atmung. Atmen Sie tief und langsam ein, lassen Sie Ihren Bauch sich ausdehnen, und atmen Sie langsam durch den Mund aus. Stellen Sie sich vor, dass jeder Atemzug Ruhe bringt und Spannung loslässt.
- Konzentration auf Sicherheit und Komfort: Erinnern Sie sich sanft daran, dass Sie sich an einem sicheren Ort befinden. Verwenden Sie beruhigende Selbstgespräche oder Affirmationen wie: „Ich bin jetzt sicher. Ich habe die Kontrolle. Ich bin ruhig.“
- Entspannungstechniken: Wenn Sie Spannungen in Ihrem Körper spüren, üben Sie progressive Muskelentspannung. Spannen Sie jede Muskelgruppe an und lassen Sie sie dann langsam wieder los, beginnend bei den Zehen und bis zum Kopf. Beachten Sie den Unterschied zwischen Anspannung und Entspannung.
- Reflektieren: Nehmen Sie sich nach ein paar Minuten einen Moment Zeit, um etwaige Veränderungen in Ihrem Befinden zu bemerken. Beobachten Sie, ob es Verschiebungen von Stress zu Entspannung gibt.
- Verankerung beenden: Bringen Sie sanft Ihre Aufmerksamkeit zurück in den gegenwärtigen Moment. Öffnen Sie Ihre Augen und nehmen Sie einen letzten tiefen Atemzug. Beachten Sie Verbesserungen in Ihrem Sicherheits- und Entspannungsgefühl.
Schlussfolgerung
„Embodiment“ und „Embedment“ ergänzen das bio-psycho-soziale Modell in der modernen Schmerztherapie sinnvoll. Durch eine strukturierte Herangehensweise lassen sich somatische, kognitive und verhaltensbezogene Aspekte komplementär integrieren (Tschacher et al 2017). Schmerz wird nicht als abgetrenntes Objekt, sondern als Prozess verstanden, der sich sowohl körperlich als auch sozial ausdrückt. Ein zentraler Bestandteil der Therapie ist der bewusste Umgang und das Verstehen des eigenen Körpers mit dem Ziel Schmerzerfahrungen in einen kohärenten Sinnzusammenhang zu stellen und aktiv mit ihnen umzugehen. Dazu braucht es einen gewissen Grad an Akzeptanz und die aktive Beteiligung des Patienten an der Rehabilitation (Boyd 2023).
Zudem bietet Achtsamkeitsarbeit durch die Verankerung im Körper die Möglichkeit, Stressreaktionen zu regulieren und das sogeannte „Window of Tolerance“ (Abb. 2) zu erweitern (Crosswell et al 2024). Das Ziel dieser Ansätze ist nicht primär die Schmerzreduktion, sondern die Wiederherstellung der Kontrolle über den eigenen Körper und die Fähigkeit, zukünftige Herausforderungen resilient zu bewältigen (Siegel 2020). Dies führt letztlich zu einer langfristigen Verbesserung der Lebensqualität und einer tieferen Verbindung zwischen Körper und Geist (Walsh 2019). Der eigene Körper kann wieder als Ressource erlebt werden.
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Literatur
- Boyd B. Bodily Relearning, NOI Press Adelaide, 2023.
- Butler D, Moseley L: The Explain Pain Handbook – Protectometer. NOI Press, 2015.
- Clark, A. Embodied Prediction. In T. Metzinger & J. M. Windt (Eds). Open MIND: 7(T). Frankfurt am Main: MIND Group, 2015.
- Corrigan F, Nutt D, Fisher JJ. Autonomic dysregulation and the Window of Tolerance Model of the effects of complex emotional trauma. Journal of Psychopharmacology 25(1):17-25, 2011.
- Crosswell A, Mayer S, Whitehurst L et al. Deep Rest: An Integrative Model of How Contemplative Practices Combat Stress and Enhance the Body’s Restorative Capacity. Psychol Rev. 131(1): 247–270, 2024.
- Emerson D and Hopper E. Overcoming Trauma through Yoga: Reclaiming Your Body. North Atlantic, 2011.
- Egan Moog M, Pangallo M. Disembodiment and Persistent Pain, Pro Manu, 2, 18-22, 2021.
- Flor H. Pain has an element of blank-a biobehavioral approach to chronicity. Pain, 158, Suppl 1: 92-96, 2017.
- Haslam BS, Butler D, Kim A, Carey L. Somatosensory Impairment and Chronic Pain Following Stroke: An Observational Study. Int. J. Environ. Res. Public Health 20, 906. 2023.
- Huang Y, Zhang X, Li W. Involvement of primary somatosensory cortex in motor learning and task execution. Neurosci Lett. 2024 Apr 1;828, 2024.
- Kiverstein J, Kirchhoff MD, Thacker M. An Embodied Predictive Processing Theory of Pain Experience. Review of Philosophy and Psychology, Volume 13,pages 973–998, 2022.
- Kosek, E; Clauw, D, Nijs J; Baron R. et al. Chronic nociplastic pain affecting the musculoskeletal system: clinical criteria and grading system. Pain, 162(11): 2629-2634, 2021.
- Malchiodi, C. A. (2020). Trauma and expressive arts therapy: Brain, body, and imagination in the healing process. New York: Guilford Publication.
- Pearson N, Prosko S, Sullivan M: Yoga and Science in Pain Care. Treating the Person in Pain. SINGING DRAGON, 2019.
- Odgen P, Pain C, Fisher J. A sensorimotor approach to the treatment of trauma and dissociation. Psychiatr Clin North Am, 29 (1): 263-79, 2006.
- Siegel D: The Developing Mind, How Relationships and the Brain Interact to Shape Who We Are. Guilford Publications, 2020.
- Tschacher W, Storch M, Hüther G, Cantieni B: Embodiment – die Wechselwirkungen von Körper und Psyche verstehen und nutzen. Hogrefe AG, 2017.
- van den Broeke EN, Crombez G, Vlaeyen JWS. Reconceptualizing sensitization in pain: back to basics. PAIN Reports. 9 (1), 1125, 2024.
- Walsh M. Embodiment – Moving beyond mindfulness. Unicorn Slayer Press, 2019.
- Wohlers C. René Descartes: Die Prinzipien der Philosophie. Felix Meiner Verlag, 2005.
- Zusman M. Das Bio-psycho-soziale Modell als Leitfaden für die Behandlung von muskuloskeletalen Schmerzen und Behinderungen durch Bewegungsbasierte Therapie. Physioscience, 6:112-120, 2010.
Weblinks
- Interoception: Our Real-Life Superpower | Carrie DeJong | TEDxChilliwack – YouTube
- What is trauma? The author of “The Body Keeps the Score” explains | Bessel van der Kolk | Big Think – YouTube
- „The brain is a servant of the body“ – Antonio Damasio about feelings as the origin of brain (youtube.com)
- IASP Announces Revised Definition of Pain – International Association for the Study of Pain (IASP) (iasp-pain.org)
- Window of Tolerance and Emotional Regulation (Dr Dan Siegel) (youtube.com)
- Das Window of Tolerance beschreibt das individuelle Toleranzfenster, das uns zur Verfügung steht, um mit den Herausforderungen des Lebens klarzukommen und unsere Emotionen regulieren zu können. — Psychotherapie München Pasing Sabine Eymann | Psychotherapie München City und Pasing (psychotherapie-eymann.de)
Autoren
arbeitet als Physiotherapeutin im interdisziplinären PRECISION ASCEND Schmerzmanagement Programm in Melbourne und als Tutorin im Muskuloskeletalen/Sport Master der LaTrobe Universität. Seit 2021 hat sie eine kleine Privatpraxis für Schmerzpatienten, wo sie vorallem psychologisch informierte Schmerztherapie und Yoga in ihre praktische Arbeit einfliessen lässt. Seit 22 Jahren unterrichtet und publiziert sie zu schmerzwissenschaftlichen Themen. Sie ist Instruktorin im Team der NOI (Neuro-Orthopädisches-Institut) und hat 2004 deren „Explain Pain“ (Buch und Kurs) ursprünglich ins deutsche übersetzt (‚Schmerzen verstehen“). Sie ist Mitarbeiterin im Arbeitskreis „Schmerz und Bewegung“ der Deutschen Schmerzgesellschaft und mitverantwortlich für die Entwicklung, Unterricht und Prüfung des Curriculums „spezielle Schmerzphysiotherapie“.