In der osteopathischen Arbeit mit Reiter und Pferd begegnet uns immer wieder dieselbe zentrale Erkenntnis: Zwei Individuen mit jeweils hochkomplexen Bewegungsapparaten bilden beim Reiten eine funktionelle Einheit. Diese Verbindung ist nicht nur physisch, sondern auch neuro-muskulär und energetisch tief miteinander verwoben.
Dabei stellt sich eine entscheidende Frage: Wie beeinflusst der Mensch mit seinem Körper den des Pferdes und umgekehrt? Vor allem im Bereich des Beckens, jener Schlüsselregion für Aufrichtung, Tragkraft und Balance, entscheidet sich, ob aus Reiter und Pferd ein harmonisches Team wird oder ob Dysbalancen und Überlastungen den gemeinsamen Weg erschweren. Gerade in Zeiten, in denen das moderne Sportpferd athletischer, aber auch empfindlicher geworden ist, wird ein differenzierter osteopathischer Blick auf diese Verbindung immer relevanter. Denn was in der Bewegung geschieht, geschieht zwischen den beiden Körpern – im Dialog, nicht im Monolog.
Biomechanische Achse: Reiterbecken – Sattel – Pferdebecken
Das Becken ist das Zentrum der Bewegung, beim Menschen wie beim Pferd. Im Reitsport jedoch trifft dieses Zentrum doppelt aufeinander: Das Becken des Reiters kommuniziert direkt mit dem des Pferdes, vermittelt durch den Sattel als funktionelles Bindeglied. Hier entsteht die biomechanische Achse, die über Gleichgewicht, Bewegungsfluss und Kraftübertragung entscheidet. Ein symmetrisch bewegtes Reiterbecken überträgt harmonische Impulse auf das Pferd, es folgt weich in der Bewegung, lässt den Rücken los, aktiviert die Hinterhand. Ist das Becken jedoch blockiert, kippt einseitig ab oder verliert die Anbindung an die tiefe Rumpfmuskulatur, wirkt diese Dysfunktion unmittelbar auf die Bewegungsqualität des Pferdes. Umgekehrt kann auch eine Einschränkung im Pferdebecken, etwa durch fasziale Spannungen, muskuläre Ungleichgewichte oder Beckenschiefstände, die Bewegung des Reiters stören, ihm die Anbindung „entziehen“ und zu Kompensationen führen. Der Sattel ist dabei weit mehr als ein Reitzubehör, er ist Schnittstelle, Verstärker und manchmal auch Störfaktor. Nur wenn er korrekt angepasst ist und sowohl Reiter- als auch Pferdeanatomie berücksichtigt, kann die feine Bewegungskommunikation zwischen beiden Körpern erhalten bleiben. Im osteopathischen Kontext betrachten wir diese Achse immer als dynamisches System: Ein fein austariertes Zusammenspiel von Stabilität und Mobilität, Zentrierung und Losgelassenheit. Denn nur in dieser Balance kann echte Bewegungsintelligenz entstehen – bei Reiter und Pferd.
Beckenbewegung im Dialog – Synchronisation oder Störung
Reiten ist ein Dialog in Bewegung. Im Idealfall entsteht dabei ein synchroner Rhythmus zwischen Reiter und Pferd. Ein fein abgestimmter Bewegungsfluss, getragen von wechselseitiger Wahrnehmung. Im Zentrum dieses Dialogs: das Becken. Das Pferdebecken bewegt sich im Schritt in einer dreidimensionalen Schwingung, ähnlich einer Welle, die durch die Wirbelsäule fließt. Diese Bewegung überträgt sich über den Rücken auf den Sattel und damit direkt auf das Becken des Reiters. Ein aufmerksamer, losgelassener Reiter kann diese Schwingung nicht nur aufnehmen, sondern aktiv begleiten – mit feiner Beckenbewegung, die dem Pferd erlaubt, weiter durchzuschwingen und sich unter den Schwerpunkt zu setzen. Störungen in diesem Dialog entstehen oft schleichend: Eine Beckentorsion beim Reiter, eine alte Verletzung beim Pferd, ein nicht mehr ganz passender Sattel. Kleine Abweichungen führen zu feinen, aber nachhaltigen Kompensationsmustern. Das Pferd reagiert mit Muskelspannung, blockierter Rückentätigkeit oder Taktunreinheiten. Der Reiter spürt ein „nicht rundes“ Gefühl, verliert das Gleichgewicht oder beginnt, unbewusst gegenzuarbeiten. Die Osteopathie bietet hier nicht nur Diagnosehilfe, sondern auch konkrete Korrekturmöglichkeiten: durch Mobilisation, Faszienarbeit, viszerale Techniken oder gezielte Trainingsimpulse. Ziel ist es, den Bewegungsdialog wiederherzustellen – denn nur ein freies, schwingendes Becken auf beiden Seiten ermöglicht gesunde, tragfähige Bewegung.
Praxisbeispiel
Eine junge Dressurreiterin suchte Unterstützung, weil ihr Pferd im Linksgalopp regelmäßig „blockierte“. Die osteopathische Untersuchung zeigte: Das Pferd hatte eine Beckentorsion nach rechts und die Reiterin eine alte ISG-Blockade auf der rechten Seite, die zu einer dauerhaften asymmetrischen Sitzbelastung führte. Beide Körper hatten sich über die Zeit aufeinander eingestellt, jedoch auf Grundlage eines kompensierten Musters. Nach der osteopathischen Behandlung der Reiterin, inklusive Mobilisation und gezielter Bewegungsaufträge, war ihr Becken wieder frei beweglich. Doch zurück im Sattel griff zunächst erneut das alte Muster: Die Muskulatur, Faszien und neuronale Steuerung beider Partner „erwarteten“ noch die gewohnte Dysbalance. Also begannen wir eine gezielte Bewegungsschulung im Sattel mit Übungen für neue Aufrichtung, bewusste Bewegungsführung und gemeinsames Spüren. Reiterin und Pferd lernten, sich in ihren neu gewonnenen Bewegungsfreiheiten neu aufeinander einzustimmen. Erst dadurch wurde aus der osteopathischen Behandlung eine nachhaltige Veränderung. Das Ergebnis: nicht nur ein taktreiner Linksgalopp, sondern ein ganz neues Körpergefühl – bei Mensch und Pferd.
Das moderne Sportpferd – Veränderungen in Typus & Anforderung
Das Pferd, wie wir es heute im Sport erleben, hat sich deutlich von seinen ursprünglichen Aufgaben entfernt. War es früher Lastenträger im Militär, im Gelände oder auf langen Märschen, mit einem Schwerpunkt auf Robustheit und Ausdauer, steht heute Agilität, Versammlungsfähigkeit und Ausdruck im Vordergrund.
Die Zucht hat dementsprechend immer feinere, elastischere Typen hervorgebracht: athletisch, reaktionsschnell, hochsensibel, aber auch instabiler in der Körperstruktur. Gerade das Becken des modernen Pferdes ist dabei ein kritischer Punkt. Während die Pferde früherer Generationen eine natürliche Stabilität und Tragkraft aus einer tief angesetzten, breiten Beckenkonstruktion mitbrachten, zeigt sich heute oft ein schmaleres, beweglicheres Becken, was Vorteile in der Versammlung bringen kann, aber zugleich höhere Anforderungen an die Stützmuskulatur und das koordinative Zusammenspiel stellt. Diese Veränderung spüren wir in der osteopathischen Praxis unmittelbar: häufiger auftretende Blockaden im Bereich Brust- und Lendenwirbelsäule, fasziale Überlastung, Kompensationen über die Vorhand, mangelnde Rückentätigkeit. Es wird immer wichtiger, das Pferd aktiv auf das Reiten vorzubereiten – mit gezieltem Muskelaufbau, bewusster Bewegungsführung und einem klaren Fokus auf Beckenstabilität. Denn mit dem ersten Reitergewicht auf dem Rücken wird das Pferd, ganz gleich ob Jungpferd oder erfahrener Vierbeiner, zum Profisportler. Und dieser braucht, wie jeder Mensch im Hochleistungssport, ein gut trainiertes Zentrum, um langfristig gesund zu bleiben. Bildhafter Vergleich: Ein modernes Sportpferd ohne stabiles Becken ist wie ein Sprinter mit instabiler Rumpfmuskulatur, schnell, aber verletzungsanfällig. Oder wie ein Tänzer, der versucht, Pirouetten zu drehen, ohne Körperspannung in der Mitte. Die Kraft ist da, aber ohne Zentrum verpufft sie oder bringt den Körper aus der Balance.
Die Hinterhand als Kraftzentrum – der Aufbau beginnt hinten
In der natürlichen Statik des Pferdes liegt der Schwerpunkt weit vorn. Etwa 60 – 65 % seines Körpergewichts ruhen auf der Vorhand, das ist für das freilebende Tier kein Problem. Doch sobald ein Reiter aufsteigt, verschiebt sich dieses Gleichgewicht weiter nach vorne. Damit beginnt ein neues biomechanisches Kapitel: Das Pferd wird zum Träger für eine Belastung, für die es ursprünglich nicht gemacht ist. Um diese neue Aufgabe gesund zu erfüllen, braucht es eine gezielte Vorbereitung: Tragkraft aus der Hinterhand, eine aktiv arbeitende Lenden-Becken-Region und eine durchlässige Rückentätigkeit. Der Aufbau dieser Muskulatur ist nicht optional, er ist Voraussetzung für alles, was im Sport gefordert wird: Versammlung, Schwung, Balance, Dynamik. Ein Pferd, das auf der Vorhand „läuft“, kompensiert häufig mit Spannung im Rücken, im Genick oder in der Schulter. Die Bewegungen werden hart, unelastisch, mit jedem Schritt steigt die Gefahr von Verschleiß. Die Lösung liegt im Zentrum des Pferdes: im Becken, in der Verbindung zur Hinterhand und in der Fähigkeit, Last aufzunehmen. In der osteopathischen Praxis sehen wir oft Pferde mit eindrucksvoller Muskulatur, aber sie ist „falsch“ verteilt: kraftvoll vorn, schwach hinten. Ziel muss es sein, den Muskelaufbau von hinten nach vorne zu denken. Nur so kann der Rücken frei schwingen, die Vorderhand entlastet und das Pferd wirklich unter den Schwerpunkt treten. Wahrnehmungsschulung statt nur Muskeltraining: Dabei geht es nicht nur um physisches Training, sondern um die Wiederherstellung eines ganzheitlichen Körperbewusstseins. Das Pferd muss lernen, die Hinterhand aktiv zu benutzen, das Becken zu kippen, den Rücken aufzuwölben – Bewegungen, die oft erst nach osteopathischer Entlastung überhaupt wieder möglich werden. Erst dann können Training und Gymnastizierung überhaupt „greifen“.

Fazit – Die Pflicht zur Vorbereitung: Profisportler Mensch & Pferd
Ein Pferd, das geritten wird, ist nicht mehr nur Pferd, es ist Leistungsträger, Bewegungsbegleiter, im besten Fall ein athletischer Partner auf Augenhöhe. Doch diese Partnerschaft beginnt nicht im Turnier oder auf dem Trainingsplatz, sie beginnt im Körper. Und sie verlangt Vorbereitung. Für beide. Die osteopathische Perspektive zeigt deutlich: Reiter und Pferd bilden eine biomechanische Einheit, in der jede Kompensation auf beiden Seiten Wirkung zeigt. Der Schlüssel liegt dabei im Becken, jenem Zentrum von Balance, Tragkraft und Bewegungsintelligenz. Nur wenn hier Freiheit und Stabilität zugleich herrschen, entsteht der Raum für gesunde, tragfähige Bewegung. Das bedeutet Verantwortung. Für Trainer, Therapeuten, Reiter – für alle, die mit Pferden arbeiten. Denn wir gestalten nicht nur Trainingseinheiten, sondern Bewegungsbiografien.
Ausblick
Aus dieser Erkenntnis heraus entsteht aktuell ein Workshop-Format, das genau diesen Bewegungsdialog zwischen Reiter und Pferd in den Mittelpunkt stellt – mit osteopathischem Wissen, praktischen Übungen und ganzheitlicher Körperarbeit. Denn Wissen bewegt – wenn es im Körper ankommt.
Autoren
ist Osteopathin mit Spezialisierung auf die funktionelle Verbindung von Reiter und Pferd. Sie leitet equisynergy – Osteopathie für Mensch und Pferd, Spangenberg.