Häufigkeit von Rückenschmerzen auf Rekordniveau: Prävention und Behandlung von Rückenschmerzen gehören zu den großen Herausforderungen der Gesundheitssysteme westlicher Industrienationen. Trotz umfangreicher Programme steigt die Zahl Betroffener in
Deutschland kontinuierlich an und erreicht laut Robert Koch Institut mit einer Einjahresprävalenz von 61,3 % der Gesamtbevölkerung 2021einen neuen Rekordwert.
Zahl schmerzbedingter Wirbelsäulenoperationen steigt überproportional
Parallel hierzu steigt auch die Zahl der schmerzbedingten Wirbelsäulenoperationen, obwohl es konkrete Hinweise auf eine überwiegend aus wirtschaftlichen Gründen realisierte Fehl-/Überversorgung gibt. Angesichts des bekannt hohen Anteils psycho-sozialer mehrdimensionaler Krankheitsfaktoren und der in den meisten Fällen eher geringen Bedeutung struktureller biomechanischer Störungen, ist es kein wirklich überraschendes Ergebnis, dass das für Kliniken finanziell lukrative „broken car“ Konzept nur selten auch für Betroffene mit einer bedürfnisorientierten Beschwerdelinderung einhergeht. Hochwertige Placebo-kontrollierte Studien konnten bislang bei überschaubaren Akuteffekten keinen belastbaren Nachweis einer nachhaltigen Wirkung elektiver Wirbelsäulenoperationen bei Kreuz-/Rückenschmerzen erbringen.
Unabhängige Kontrolle richtig/wichtig!
Mit dem Ziel der Evaluation angebotsinduzierter Über-/Fehlversorgung operativer Verfahren begleitet die Deutsche Schmerzliga (DSL) e.V. in Deutschland seit 2010 das IMC-Netzwerk schmerzmedizinischer Schwerpunkteinrichtungen. Die dort aktiven Zentren bieten Betroffenen, denen zur Linderung ihrer Rückenschmerzen zu einer Wirbelsäulenoperation geraten wird, ein so genanntes Zweitmeinungsverfahren – in Form einer interdisziplinären Schmerzkonferenz (ISK) entsprechend der Konzeption der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS) e.V. – an. Bis Ende Juni 2023 nahmen 10.578 Patienten (60,1 % weiblich, Alter 52,7 ±14,4 [Spannweite: 11 – 94] Jahre) dieses Zweitmeinungsangebot in Anspruch. Dabei wurde die zu hinterfragende Indikation für eine schmerzbedingte Wirbelsäulenoperation nur in 476 Fällen (4,5 %) bestätigt, während die Spezialistenteams bei 10.102 die OP-Indikation ablehnten und den Patienten entweder eine spezialisierte ambulante multimodale Schmerztherapie (60,0 %) oder eine modifizierte konservative Therapie im Rahmen der gesetzlichen Regelversorgung (35,5 %) empfahlen.
Fazit: Keine Kostenübernahme ohne eine (gute) zweite Meinung
Aus Sicht der Deutschen Schmerzliga (DSL) e.V. belegen diese Zahlen eindrucksvoll die Notwendigkeit für eine gesetzlich verpflichtende Überprüfung der Operationsindikation durch eine unabhängige interdisziplinäre Schmerzkonferenz unter Einbeziehung qualifizierter Schmerzexperten. Elektive Operationen, die ohne ein positives unabhängiges Zweitmeinungsvotum durchgeführt werden, sollten von den gesetzlichen Krankenversicherungen nicht mehr länger vergütet und die Gelder stattdessen zum flächendeckenden Aufbau qualifizierter Alternativangebote genutzt werden.
Autoren
ist Facharzt für Kinderheilkunde und Jugendmedizin (Habilitation mit Schwerpunkt Neuropädiatrie und Spezielle Schmerzmedizin). Er leitet das Institut für Neurowissenschaften und Exzellenzzentrum für Versorgungsforschung Nürnberg (IFNAP), ist Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS) e.V. sowie Präsident der Deutschen Schmerzliga (DSL) e.V.